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Tiefe Wunden

Titel: Tiefe Wunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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übergeordnete Position zu betonen, sondern kam in den Besprechungsraum des K11, in dem Kriminaloberkommissar Kai Ostermann und Kriminalassistentin Kathrin Fachinger Vorbereitungen für eine kurzfristig anberaumte Besprechung trafen. Sie hatten nach Pias morgendlichem Rundruf alle privaten Wochenendpläne hintenangestellt und waren ins K11 gekommen. Auf die noch leere Tafel im großen Besprechungsraum hatte Fachinger mit ihrer korrekten Schrift GOLDBERG geschrieben, daneben die geheimnisvolle Zahl 16145.
    »Was gibt es, Bodenstein?«, fragte Nierhoff. Auf den ersten Blick wirkte der Leiter der Regionalen Kriminalinspektion unscheinbar: ein untersetzter Mann Mitte fünfzig mit grauem Seitenscheitel, einem kleinen Schnauzbart und weichen Gesichtszügen. Aber dieser erste Eindruck täuschte. Nierhoff war ausgesprochen ehrgeizig und besaß ein sicheres politisches Gespür. Seit Monaten kursierten Gerüchte, er werdeüber kurz oder lang seinen Chefsessel in der Regionalen Kriminalinspektion mit dem des Regierungspräsidenten in Darmstadt tauschen. Bodenstein bat seinen Chef in sein Büro und berichtete ihm in knappen Worten vom Mord an David Goldberg. Nierhoff hörte schweigend zu und sagte auch nichts, als Bodenstein geendet hatte. Im Kommissariat war bekannt, dass der Kriminaldirektor das Rampenlicht mochte und gerne Pressekonferenzen in großem Stil abhielt; seit dem medienwirksamen Selbstmord von Oberstaatsanwalt Hardenbach vor zwei Jahren hatte es im Main-Taunus-Kreis kein so prominentes Mordopfer mehr gegeben. Bodenstein, der eigentlich angenommen hatte, Nierhoff würde von der Aussicht auf ein Blitzlichtgewitter begeistert sein, war von der zurückhaltenden Reaktion seines Chefs ein wenig überrascht.
    »Das könnte eine heikle Angelegenheit werden.« Die unverbindliche Freundlichkeit, die Kriminaldirektor Nierhoff sonst immer zur Schau trug, war aus seiner Miene gewichen, zum Vorschein kam der gewiefte Taktierer. »Ein amerikanischer Staatsbürger jüdischen Glaubens und Überlebender des Holocaust mit einem Genickschuss hingerichtet. Wir sollten Presse und Öffentlichkeit vorerst da raushalten.«
    Bodenstein nickte zustimmend.
    »Ich erwarte bei den Ermittlungen äußerstes Fingerspitzengefühl. Keine Pannen«, sagte er zu Bodensteins Verärgerung. Seit es das K in Hofheim gab, konnte sich Bodenstein an keine Ermittlungspanne in seinem Zuständigkeitsgebiet erinnern.
    »Was ist mit der Haushälterin?«, erkundigte sich Nierhoff.
    »Was soll mit ihr sein?« Bodenstein verstand nicht ganz. »Sie hat die Leiche heute Morgen gefunden und stand unter Schock.«
    »Vielleicht hat sie etwas damit zu tun. Goldberg war wohl habend.«
    Bodensteins Verstimmung wuchs. »Für eine examinierte Krankenschwester gibt es sicher unauffälligere Möglichkeiten als einen Genickschuss«, bemerkte er mit leichtem Sarkasmus. Nierhoff war seit fünfundzwanzig Jahren mit seiner Karriere beschäftigt und hatte ebenso lange keine Ermittlungen mehr geführt; dennoch fühlte er sich immer wieder bemüßigt, seine Meinung kundzutun. Seine Augen huschten hin und her, während er nachdachte und Nutzen und Nachteile, die aus diesem Fall erwachsen konnten, gegeneinander abwog.
    »Goldberg war ein sehr prominenter Mann«, sagte er schließlich mit gesenkter Stimme. »Wir werden äußerst vorsichtig vorgehen müssen. Schicken Sie Ihre Leute heim, und sorgen Sie dafür, dass vorerst keine Information dieses Haus verlässt.«
    Bodenstein wusste nicht recht, was er von dieser Strategie halten sollte. Die ersten 72 Stunden waren bei einer Ermittlung immer die wichtigsten. Spuren wurden sehr schnell kalt, das Erinnerungsvermögen von Zeugen immer schwächer, je mehr Zeit verging. Aber natürlich fürchtete Nierhoff genau das, was Dr. Kirchhoff heute Morgen prophezeit hatte: negative Publicity für seine Behörde und diplomatische Verstrickungen. Politisch mochte die Entscheidung durchaus sinnvoll sein, aber Bodenstein hatte kein Verständnis dafür. Er war Ermittler, wollte den Mörder finden und dingfest machen. Ein hochbetagter Greis, der in Deutschland Schreckliches erlebt hatte, war brutal in seinem eigenen Haus ermordet worden, und es widersprach Bodensteins Auffassung von guter Polizeiarbeit völlig, aus taktischen Gründen wertvolle Zeit zu vergeuden. Insgeheim ärgerte er sich darüber, dass er Nierhoff überhaupt eingeschaltet hatte. Der allerdings kannte seinenDezernatsleiter besser, als dieser angenommen hatte. »Denken Sie nicht einmal

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