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Tiefe Wunden

Titel: Tiefe Wunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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bevorzugt schwarz, und diese anziehende Mischung aus Nonchalance und Melancholie machte ihn seit Jahrzehnten für alle weiblichen Wesen in seiner Umgebung zum Objekt der Begierde. Herta, seine Ehefrau, hatte schon früh resigniert und bis zu ihrem Tod vor einigen Jahren klaglos akzeptiert, dass sie einen Mann wie Elard nie für sich alleine haben würde. Vera indes wusste, dass es hinter der schönen Fassade, die ihr Ältester der Welt präsentierte, ganz anders aussah. Und seit einer Weile glaubte sie, eine Veränderung an ihm festzustellen, eine Unruhe, die sie nie zuvor an ihm bemerkt hatte.
    Sie spielte gedankenverloren mit der Perlenkette, die sie um den Hals trug, und ließ ihren Blick weiter schweifen. Linksvon Elard saß Jutta, ihre Tochter. Sie war fünfzehn Jahre jünger als Siegbert, eine Nachzüglerin und eigentlich nicht mehr geplant gewesen. Ehrgeizig und zielstrebig, wie sie war, erinnerte sie Vera an sich selbst. Jutta hatte nach einer Banklehre Volkswirtschaft und Jura studiert und war vor zwölf Jahren in die Politik gegangen. Seit acht Jahren hatte sie ein Landtagsmandat, war mittlerweile Fraktionsvorsitzende und würde aller Voraussicht nach im nächsten Januar als Spitzenkandidatin für ihre Partei in die Landtagswahlen gehen. Ihr langfristiger Plan war, über den Posten der hessischen Ministerpräsidentin in die Bundespolitik zu gelangen. Vera zweifelte nicht daran, dass ihr das auch gelingen würde. Der Name Kaltensee würde ihr dabei von beträchtlichem Nutzen sein.
    Ja, eigentlich konnte sich Vera rundum glücklich schätzen, mit ihrem ganzen Leben, ihrer Familie und ihren drei Kindern, die alle ihren Weg gemacht hatten. Wenn da nicht diese Sache mit Thomas gewesen wäre. Seit sie denken konnte, hatte Vera Kaltensee überlegt gehandelt und geschickt taktiert. Sie hatte ihre Emotionen im Griff gehabt, wichtige Entscheidungen stets mit kühlem Kopf getroffen. Immer. Bis auf dieses eine Mal. Sie hatte die Konsequenzen nicht bedacht, aus Zorn, aus verletztem Stolz und aus Panik völlig überstürzt gehandelt. Vera griff nach dem Glas und trank einen Schluck Wasser. Das Gefühl der Bedrohung verfolgte sie seit jenem Tag, an dem es zur endgültigen Trennung von Thomas Ritter gekommen war, es lag über ihr wie ein Schatten, der sich nicht vertreiben ließ.
    Immer war es ihr gelungen, gefährliche Klippen in ihrem Leben mit Weitsicht und Mut zu umsegeln. Sie hatte Krisen gemeistert, Probleme gelöst, Angriffe erfolgreich abgewehrt, aber jetzt fühlte sie sich plötzlich verwundbar, verletzlich und einsam. Sie empfand die gewaltige Verantwortung für ihrLebenswerk, für die Firma und die Familie mit einem Mal nicht mehr als Lust, sondern als eine Last, die ihr das Atmen schwermachte. War es nur das Alter, das ihr allmählich zusetzte? Wie viele Jahre hatte sie noch, bis ihre Kraft sie gänzlich im Stich ließ und ihr unweigerlich die Kontrolle entglitt?
    Ihr Blick schweifte über ihre Gäste, über fröhliche, sorglose, lächelnde Gesichter, sie hörte das Summen der Stimmen, das Klirren von Besteck und Geschirr aus weiter Ferne. Vera betrachtete Anita, ihre liebe Freundin aus Jugendzeiten, die leider gar nicht mehr ohne Rollstuhl auskam. Nicht zu fassen, wie gebrechlich die resolute, lebenshungrige Anita geworden war! Vera schien es, als sei es erst gestern gewesen, dass sie gemeinsam in der Tanzschule gewesen waren und später dann beim BDM, wie beinahe alle Mädchen damals. Nun kauerte sie in ihrem Rollstuhl wie ein zartes, blasses Gespenst, die glänzende dunkelbraune Haarpracht von einst nur noch weißer Flaum. Anita war eine der Letzten von Veras Freunden und Gefährten aus Jugendzeiten; die allermeisten hatten schon ins Gras gebissen. Nein, es war nicht schön, alt zu werden, zu verfallen und einen nach dem anderen wegsterben zu sehen.
    Milde Sonne im Laub, gurrende Tauben. Der See so blau wie der endlose Himmel über den dunklen Wäldern. Der Geruch nach Sommer, nach Freiheit. Junge Gesichter, die mit glänzenden Augen aufgeregt die Regatta verfolgen. Die Jungs in ihren weißen Pullovern schießen als Erste mit ihrem Boot über die Ziellinie. Sie strahlen stolz, winken. Vera kann ihn sehen, er hat das Steuer in der Hand, er ist der Kapitän. Ihr schlägt das Herz bis zum Hals, als er mit einem geschmeidigen Satz auf die Kaimauer springt. Hier bin ich, denkt sie und winkt mit beiden Armen, ich hab dir die Daumen gedrückt, schau mich an! Zuerst glaubt sie, er lächelt sie an, ruft ihm einen

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