Tiefe Wunden
Gabriela von Rothkirch im Bad Homburger Hardtwald, der wohl vornehmsten Wohngegend im vorderen Taunus. Hinter hohen Mauern und dichten Hecken lebte hier die wirkliche High Society in herrschaftlichen Villen auf jeweils mehreren tausend Quadratmeter großen Parkgrundstücken. Seit Cosima und ihre Geschwister nach und nach ausgezogen waren und ihr Gatte verstorben war, bewohnte die Gräfin die prächtige Achtzehn-Zimmer-Villa ganz allein; ein altes Hausmeisterehepaar lebte im angrenzenden Gästehaus, mittlerweile eher Freunde als Angestellte. Bodenstein schätzte seine Schwiegermutter sehr. Sie führte ein erstaunlich spartanisches Leben, spendete große Summen aus diversen Familienstiftungen, tat dies aber im Gegensatz zu Vera Kaltensee diskret und ohne großes Aufhebens. Bodenstein führte Pia um das Haus herum in den weitläufigen Garten. Sie fanden die Gräfin in einem ihrer drei Gewächshäuser, damit beschäftigt, Tomatensetzlinge umzutopfen.
»Ah, da seid ihr ja«, sagte sie und lächelte. Bodenstein musste grinsen, als er seine Schwiegermutter in verblichenenJeans, einer ausgeleierten Strickjacke und einem Schlapphut erblickte.
»Mein Gott, Gabriela.« Er küsste seine Schwiegermutter auf beide Wangen, ehe er sie und Pia einander vorstellte. »Ich wusste gar nicht, welche Ausmaße deine Gemüsezucht angenommen hat. Was machst du mit dem ganzen Zeug? Das kannst du doch unmöglich alles alleine essen!«
»Das, was ihr nicht esst, bekommt die Bad Homburger Tafel«, erwiderte die Gräfin. »So kommt mein Hobby noch jemandem zugute. Aber jetzt erzählt schon – worum geht es?«
»Haben Sie schon einmal den Namen Marcus Nowak gehört?«, fragte Pia.
»Nowak, Nowak.« Die Gräfin hieb ein Messer in einen der Säcke, die neben ihr auf dem Arbeitstisch lagen, und zog es mit einem Ruck durch das Plastik. Fette schwarze Erde quoll auf den Tisch, und Pia dachte unwillkürlich an Monika Krämer. Sie begegnete dem Blick ihres Chefs und wusste, dass er dieselbe Assoziation hatte wie sie. »Ja, natürlich! Das ist der junge Restaurator, der vor zwei Jahren die alte Mühle auf dem Mühlenhof restauriert hat, nachdem Vera Auflagen vom Denkmalschutzamt bekommen hatte.«
»Das ist ja interessant«, sagte Bodenstein. »Irgendetwas muss vorgefallen sein, denn sie hat ihn wegen fahrlässiger Körperverletzung verklagt.«
»Davon habe ich gehört«, bestätigte die Gräfin. »Es hat wohl einen Unfall gegeben, bei dem Vera verletzt wurde.«
»Was ist passiert?« Bodenstein öffnete sein Jackett und lockerte die Krawatte. Im Gewächshaus herrschten mindestens achtundzwanzig Grad bei neunzig Prozent Luftfeuchtigkeit. Pia hatte ihren Block hervorgeholt und machte sich Notizen.
»Ich weiß leider nichts Genaues.« Die Gräfin stellte diefertig umgetopften Pflanzen auf ein Brett. »Vera redet nur ungern über ihre Niederlagen. Auf jeden Fall hat sie nach dieser Sache ihren Dr. Ritter gefeuert und mehrere Prozesse mit Nowak geführt.«
»Wer ist Dr. Ritter?«, wollte Pia wissen.
»Thomas Ritter war lange Jahre Veras persönlicher Assistent und Mädchen für alles«, erklärte Gabriela von Rothkirch. »Ein intelligenter, gutaussehender Mann. Vera hat ihn nach der fristlosen Kündigung überall so schlechtgemacht, dass er nirgendwo mehr einen Job bekommen hat.«
Sie hielt inne und kicherte.
»Ich hatte immer die Vermutung, dass sie scharf auf ihn war. Aber mein Gott, der Junge war ein smartes Kerlchen und Vera eine alte Schachtel! Dieser Nowak ist übrigens auch ein ziemlich hübscher Bursche. Ich habe ihn zwei- oder dreimal gesehen.«
»Er war ein hübscher Bursche«, korrigierte Pia. »Gestern Nacht wurde er überfallen und übel zugerichtet. Nach Meinung der behandelnden Ärzte hat man ihn gefoltert. Seine rechte Hand ist so stark gequetscht, dass sie eventuell amputiert werden muss.«
»Großer Gott!» Die Gräfin hielt entsetzt mit ihrer Arbeit inne. »Der arme Mann!«
»Wir müssen herausfinden, weshalb Vera Kaltensee ihn angezeigt hat.«
»Da solltet ihr am besten mit Dr. Ritter sprechen. Und mit Elard. Soweit ich weiß, waren sie bei dem Vorfall dabei.«
»Elard Kaltensee wird uns wohl kaum etwas Nachteiliges über seine Mutter erzählen«, vermutete Bodenstein und zog das Jackett ganz aus. Der Schweiß lief ihm über das Gesicht.
»Da wäre ich mir nicht so sicher«, entgegnete die Gräfin. »Elard und Vera sind sich nicht besonders zugetan.«
»Aber warum lebt er denn dann mit ihr unter einem
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