Tiefe Wunden
Dach?«
»Wahrscheinlich, weil es bequem ist«, vermutete Gabriela von Rothkirch. »Elard ist kein Mensch, der bei irgendetwas die Initiative ergreift. Er ist ein brillanter Kunsthistoriker, und seine Meinung ist in der Kunstwelt hoch geschätzt, aber im wahren Leben ist er eher unbeholfen – kein Macher, wie Siegbert. Elard geht gerne den bequemsten Weg und möchte mit allen gut Freund sein. Wenn das nicht geht, dann weicht er aus.«
Pia hatte einen ganz ähnlichen Eindruck von Elard Kaltensee gewonnen. Nach wie vor war er ihr bevorzugter Verdächtiger.
»Halten Sie es für möglich, dass Elard die Freunde seiner Mutter getötet haben könnte?«, fragte sie deshalb, obwohl Bodenstein sofort die Augen verdrehte. Die Gräfin aber blickte Pia unverwandt an.
»Elard ist schwer einzuschätzen«, sagte sie. »Ich bin mir sicher, dass er hinter seiner höflichen Fassade etwas verbirgt. Sie müssen bedenken, dass er nie einen Vater hatte, keine Wurzeln. Das macht ihm zu schaffen, besonders jetzt, in dem Alter, in dem man begreift, dass womöglich nicht mehr viel kommt. Und Goldberg und Schneider hat er zweifellos nie leiden können.«
Marcus Nowak hatte Besuch, als Bodenstein und Pia eine Stunde später das Krankenzimmer betraten. Pia erkannte den jungen Vorarbeiter von heute Morgen wieder. Er saß auf dem Stuhl neben dem Bett seines Chefs, hörte ihm zu und machte sich eifrig Notizen. Nachdem er mit dem Versprechen, später am Abend noch einmal wiederzukommen, verschwunden war, stellte Bodenstein sich Nowak vor.
»Was ist gestern Nacht passiert?«, fragte er ohne großeEinleitung. »Und kommen Sie mir jetzt nicht damit, dass Sie sich nicht erinnern können. Das nehme ich Ihnen nicht ab.«
Nowak schien nicht sonderlich begeistert, schon wieder die Kripo zu sehen, und tat das, was er gut konnte: Er schwieg. Bodenstein hatte sich auf den Stuhl gesetzt, Pia lehnte am Fensterbrett und hatte ihr Notizbuch aufgeschlagen. Sie betrachtete Nowaks übel zugerichtetes Gesicht. Ihr war beim letzten Mal nicht aufgefallen, was für einen schönen Mund er hatte. Volle Lippen, weiße regelmäßige Zähne und feingeschnittene Gesichtszüge. Bodensteins Schwiegermutter hatte recht. Unter normalen Umständen war er sicher ein ziemlich hübscher Mann.
»Herr Nowak«, Bodenstein beugte sich vor, »meinen Sie, wir sind zum Spaß hier? Oder ist es Ihnen egal, wenn die Männer, denen Sie möglicherweise den Verlust Ihrer rechten Hand verdanken, straffrei ausgehen?«
Nowak schloss die Augen und schwieg beharrlich.
»Wieso hat Frau Kaltensee Sie wegen fahrlässiger Körperverletzung angezeigt?«, fragte Pia. »Warum haben Sie in den letzten Tagen ungefähr dreißigmal bei ihr angerufen?«
Schweigen.
»Kann es sein, dass der Überfall auf Sie etwas mit der Familie Kaltensee zu tun hat?«
Pia bemerkte, wie Nowak seine unverletzte Hand bei dieser Frage zu einer Faust ballte. Treffer! Sie nahm einen zweiten Stuhl, stellte ihn auf die andere Seite des Bettes und setzte sich. Ihr erschien es fast ein bisschen unfair, den Mann, der vor kaum achtzehn Stunden Entsetzliches erlebt hatte, so in die Mangel zu nehmen. Sie selbst wusste nur zu gut, wie furchtbar es war, in seinen eigenen vier Wänden überfallen zu werden. Trotzdem – sie hatten fünf Morde aufzuklären, und Marcus Nowak hätte leicht die sechste Leiche sein können.
»Herr Nowak.« Sie ließ ihre Stimme freundlich klingen.»Wir wollen Ihnen helfen, wirklich. Es geht um sehr viel mehr als den Überfall auf Sie. Bitte schauen Sie mich doch mal an.«
Nowak gehorchte. Der Ausdruck der Verletzlichkeit in seinen dunklen Augen berührte Pia. Der Mann war ihr irgendwie sympathisch, obwohl sie ihn gar nicht kannte. Es passierte ihr gelegentlich, dass sie für einen Menschen, in dessen Leben sie durch ihre Ermittlungen plötzlich Einblick erhielt, mehr Mitgefühl und Verständnis empfand, als für ihre Objektivität gut sein mochte. Während sie noch darüber nachdachte, weshalb sie den Mann mochte, der sich so hartnäckig weigerte, irgendetwas preiszugeben, fiel ihr wieder ein, was ihr am Morgen beim Anblick von Nowaks Fahrzeugen durch den Kopf geschossen war. Ein Zeuge hatte in der Nacht von Schneiders Ermordung in der Einfahrt von dessen Haus ein Auto mit einer Firmenaufschrift gesehen.
»Wo waren Sie in der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai?«, fragte sie unvermittelt. Nowak war von dieser Frage ebenso überrascht wie Bodenstein.
»Ich war beim Tanz in den Mai. Auf dem
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