Tiefe Wunden
Vicky wirklich meine Schwester sein, obwohl wir auch jetzt schon die allerbesten Freundinnen sind, die man sich vorstellen kann ...
Thomas Ritter klebte einen gelben Zettel in die Seiten des Tagebuchs und rieb sich die brennenden Augen. Es war unglaublich! Beim Lesen war er in eine lang untergegangene Welt eingetaucht, in die Welt eines jungen Mädchens, das behütet auf dem großen elterlichen Gut in Masuren aufgewachsen war. Allein diese Tagebücher hätten Stoff für einen großartigen Roman hergegeben, ein Requiem auf das versunkene Ostpreußen, nicht viel schlechter als Arno Surminski oder Siegfried Lenz. Ausführlich und sehr aufmerksam hatte die junge Vera Land und Leute geschildert, aber auch die politische Situation aus dem Blickwinkel der Gutsherrentochter, deren Eltern zwei Söhne im Ersten Weltkrieg verloren und sich seitdem auf das ostpreußische Landgut zurückgezogen hatten. Sie hatten Hitler und den Nazis kritisch gegenübergestanden, aber dennoch geduldet, dass Vera und ihre Freundinnen Edda und Vicky zum BDM gingen. Faszinierend auch die Schilderung der Reise der jungen Mädchen mit ihrer BDM-Gruppe zu den Olympischen Spielen nachBerlin, Veras Aufenthalte in einem Schweizer Mädcheninternat, wo sie ihre Freundin Vicky sehr vermisst hatte. Bei Ausbruch des Krieges war Veras älterer Bruder Elard zur Luftwaffe gegangen und hatte dort durch seine Leistungen schnell Karriere gemacht. Besonders berührend war die Entwicklung der Liebesbeziehung zwischen Elard und Vicky, der Tochter des Gutsverwalters Endrikat.
Weshalb nur war Vera so vehement dagegen gewesen, ihre Jugend in Ostpreußen in den ersten Kapiteln der Biographie zu thematisieren? Sie hatte schließlich nichts getan, für das sie sich hätte schämen müssen, abgesehen vielleicht von ihrer Mitgliedschaft im BDM. Aber gerade auf dem Land, wo jeder jeden kannte, war es damals nahezu unmöglich gewesen, sich auszuschließen, ohne in Schwierigkeiten zu geraten. Ritter hatte immer weiter gelesen, und ganz allmählich hatte er begriffen, warum diese Erinnerungen aus Veras Sicht eher ins Feuer gehört hätten als in die Hände eines Fremden. Vor dem Hintergrund dessen, was er am vergangenen Freitag erfahren hatte, boten diese Tagebücher puren Sprengstoff. Beim Lesen hatte er sich fortwährend Notizen gemacht und im Geiste die ersten Kapitel seines Manuskripts neu geordnet. Im Tagebuch von 1942 hatte er dann den Beweis gefunden. Als er die Schilderung des 23. August 1942 – dem Tag, als Hitler mit seinen Bombern zum ersten Mal Stalingrad angreifen ließ – las, wählte er sich sofort ins Internet ein und rief die Kurzbiographie von Elard Kaltensee auf.
»Das gibt’s doch nicht«, murmelte Ritter und starrte auf den Bildschirm seines Laptops. Elard war am 23. August 1943 geboren, stand da. War es möglich, dass Vera auf den Tag genau ein Jahr nach der Geburt ihres Neffen selbst einen Sohn zur Welt gebracht hatte? Ritter suchte nach dem Tagebuch aus dem Jahr 1943 und blätterte bis zum August.
Heini ist ein Jahr alt geworden! So ein süßer, kleiner Kerl – er ist zum Fressen! Sogar laufen kann er schon ... Er blätterte ein paar Seiten zurück, ein paar Seiten vor. Vera war im Juli aus der Schweiz auf das elterliche Gut zurückgekehrt und hatte dort den Sommer verbracht, einen Sommer, der überschattet wurde vom Tod Walters, des älteren Bruders ihrer Freundin Vicky Endrikat, der in Stalingrad gefallen war. Keine Rede von einem Mann in Veras Leben, geschweige denn von einer Schwangerschaft! Kein Zweifel, dass es sich bei Elard Kaltensee um den Jungen Heinrich Arno Elard handelte, der am 23. August 1942 zur Welt gekommen war. Aber weshalb stand in seiner Biographie das Jahr 1943 als sein Geburtsjahr? Hatte sich Elard aus Eitelkeit ein Jahr jünger gemacht? Ritter fuhr erschrocken zusammen, als sein Handy summte. Marleen erkundigte sich besorgt, wo er bliebe. Es war schon kurz nach zehn. In Ritters Kopf schwirrten die Gedanken, er konnte jetzt unmöglich einfach unterbrechen!
»Es wird leider später, Schatz«, sagte er und bemühte sich um einen bedauernden Tonfall. »Du weißt doch, ich habe morgen Abgabetermin. Ich komme, so schnell ich kann, aber warte nicht auf mich. Geh ruhig schlafen.«
Kaum, dass sie aufgelegt hatte, zog er den Laptop heran und fing an, die Sätze, die er beim Lesen in seinem Kopf formuliert hatte, in die Tastatur zu tippen. Er lächelte dabei. Wenn er seinen Verdacht mit handfesten Beweisen untermauern konnte, dann
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