Tiefe Wunden
Aufregungen gelegt haben.«
»Sie meinen die Aufregungen um die Morde an den Freunden Ihrer ... Großmutter?«
»Ja, genau. Vera Kaltensee ist meine Oma.«
»Und Sie sind wessen Tochter?«, wollte Pia wissen. »Mein Vater ist Siegbert Kaltensee.«
In diesem Moment fiel Pias Blick auf das engsitzende T-Shirt der jungen Frau, und sie kombinierte richtig.
»Wissen Ihre Eltern, dass Sie in anderen Umständen sind?«
Marleen Ritter wurde zuerst rot, strahlte dann aber stolz, streckte den deutlich sichtbaren Bauch heraus und legte beide Hände darauf. Pia gelang ein Lächeln, obwohl ihr nicht danach zumute war. Noch immer, nach all den Jahren, verspürte sie in der Gegenwart einer glücklichen Schwangeren einen kleinen Stich.
»Nein«, sagte Marleen Ritter. »Wie gesagt, mein Vater hat zurzeit andere Sorgen.«
Jetzt erst schien sie sich auf ihre gute Erziehung zu besinnen.
»Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
»Danke, nein«, lehnte Bodenstein höflich ab. »Wir wollten eigentlich mit ... Ihrem Mann sprechen. Wissen Sie, wo er sich gerade aufhält?«
»Ich kann Ihnen seine Handynummer und die Adresse der Redaktion geben.«
»Das wäre sehr freundlich.« Pia zückte ihr Notizbuch.
»Ihr Mann hat uns gestern erzählt, dass Ihre Großmutter ihn seinerzeit nach Unstimmigkeiten entlassen hat«, sagte Bodenstein. »Nach achtzehn Jahren.«
»Ja, das ist wahr.« Marleen Ritter nickte bekümmert. »Ich weiß auch nicht genau, was vorgefallen ist. Thomas verliertnie ein schlechtes Wort über Oma. Ich bin ganz sicher, dass sich alles wieder einrenkt, wenn sie erst erfährt, dass wir verheiratet sind und ein Baby erwarten.«
Pia staunte über den naiven Optimismus der Frau. Sie zweifelte sehr daran, dass Vera Kaltensee den Mann, den sie in Schimpf und Schande vom Hof gejagt hatte, wieder mit offenen Armen aufnehmen würde, nur weil er ihre Enkelin geheiratet hatte. Ganz im Gegenteil.
Elard Kaltensee zitterte am ganzen Körper, als er sein Auto Richtung Frankfurt lenkte. Konnte das, was er soeben erfahren hatte, wirklich die Wahrheit sein? Wenn ja – was erwarteten sie von ihm? Was sollte er tun? Immer wieder musste er seine schweißnassen Handflächen an seiner Hose reiben, weil ihm sonst das Lenkrad entglitten wäre. Für einen Augenblick war er versucht, das Auto mit Vollgas direkt gegen einen Betonpfeiler zu lenken, damit alles ein Ende hätte. Aber der Gedanke daran, dass er verkrüppelt überleben könnte, hielt ihn davon ab. Er tastete in der Mittelkonsole seines Autos nach dem vertrauten Döschen, bis ihm einfiel, dass er es vor zwei Tagen voller Euphorie und guter Vorsätze aus dem Fenster geworfen hatte. Wie hatte er nur annehmen können, dass er plötzlich ohne Tavor auskommen könnte? Sein seelisches Gleichgewicht war schon seit Monaten tief erschüttert, jetzt aber fühlte er sich, als ob man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen hätte. Er wusste selbst nicht, auf welche Erkenntnis er in all den Jahren des halbherzigen Suchens gehofft hatte, aber ganz sicher nicht auf diese.
»Herrgott im Himmel«, stieß er hervor und kämpfte gegen die widerstreitenden Gefühle, die in seinem Innern ohne die Droge beängstigend heftig tobten. Alles war plötzlich unerträglich klar umrissen und schmerzhaft deutlich. Das war das richtige Leben, und er wusste nicht, ob er es überhauptnoch meistern konnte und wollte. Sein Körper und sein Gehirn verlangten nachdrücklich nach der entspannenden Wirkung des Benzodiazepam. Als er versprochen hatte, es sich abzugewöhnen, hoch und heilig, hatte er noch nicht gewusst, was er jetzt wusste. Sein ganzes Leben, seine ganze Existenz und seine Identität eine einzige Lüge! Warum?, hämmerte es schmerzhaft in seinem Kopf, und Elard Kaltensee wünschte sich verzweifelt den Mut, diese Frage der richtigen Person zu stellen. Doch schon der Gedanke daran erfüllte ihn mit der tiefen Sehnsucht, weit wegzulaufen. Jetzt konnte er noch so tun, als wisse er nichts.
Plötzlich leuchteten vor ihm rote Bremslichter auf, und er trat so heftig auf die Bremse, dass das Antiblockiersystem seines schweren Mercedes ratterte. Der Autofahrer hinter ihm hupte wild und scherte gerade noch rechtzeitig auf den Standstreifen aus, um ihm nicht mit voller Wucht in den Kofferraum zu rauschen. Der Schreck brachte Elard Kaltensee wieder zu sich. Nein, so konnte er nicht leben. Und es war ihm auch egal, wenn alle Welt erkannte, welch jämmerlicher Feigling sich hinter der glatten Fassade des
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