Tiefe Wunden
sie sich ausgibt!« Ritter hielt es nicht länger auf seinem Stuhl. »Genau wie Goldberg, Schneider und die Frings! Die vier haben irgendein düsteres Geheimnis geteilt, und ich wollte herausfinden, welches!«
»Deswegen waren Sie bei Goldberg?«, fragte Pia skeptisch. »Haben Sie wirklich gedacht, er würde Ihnen bereitwillig alles erzählen, worüber er mehr als sechzig Jahre geschwiegen hat?«
Ritter achtete nicht auf ihren Einwand.
»Ich war in Polen und habe dort recherchiert. Leider gibt es keine Zeitzeugen mehr, die man fragen könnte. Dann war ich bei Schneider und auch bei Anita – immer dasselbe!«
Er verzog angeekelt das Gesicht.
»Sie haben sich alle drei dumm gestellt, diese selbstgerechten, überheblichen alten Nazis mit ihren Kameradschaftsabenden und den ewiggestrigen Sprüchen! Ich konnte sie schon früher nicht leiden, keinen von ihnen.«
»Und als die drei Ihnen nicht geholfen haben, da haben Sie sie erschossen«, sagte Pia.
»Genau. Mit der Kalaschnikow, die ich immer dabeihabe. Nehmen Sie mich fest«, forderte Ritter sie patzig auf. Er wandte sich an Bodenstein. »Wieso hätte ich die drei umbringen sollen? Sie waren uralt, die Zeit hätte das schon für mich erledigt.«
»Und Robert Watkowiak? Was wollten Sie von dem?«
»Informationen. Ich habe ihn dafür bezahlt, dass er mir mehr über Vera erzählt, außerdem konnte ich ihm sagen, wer in Wirklichkeit sein Vater war.«
»Woher wussten Sie das denn?«, fragte Pia.
»Ich weiß eine Menge«, erwiderte Ritter herablassend. »Dass Robert der uneheliche Sohn von Eugen Kaltensee war, ist ein Märchen. Roberts Mutter war ein siebzehnjähriges polnisches Dienstmädchen auf dem Mühlenhof. Siegbert hatte sich an ihr vergriffen, bis die Ärmste schwanger wurde. Seine Eltern haben ihn sofort auf eine Uni nach Amerika geschickt und sie gezwungen, im Keller heimlich zu entbinden. Danach verschwand sie auf Nimmerwiedersehen. Ich nehme an, dass sie sie abgemurkst und irgendwo auf dem Grundstück verscharrt haben.«
Ritter sprach immer schneller, seine Augen glänzten wie im Fieber. Bodenstein und Pia hörten schweigend zu.
»Vera hätte Robert als Säugling zur Adoption freigebenkönnen, aber sie ließ ihn gerne darunter leiden, dass er ein bedauerlicher Fehltritt war. Gleichzeitig hat sie es genossen, wie er sie bewundert und angebetet hat! Sie war schon immer überheblich und hält sich für unantastbar. Deshalb hat sie auch die Kisten mit dem ganzen brisanten Inhalt nie vernichtet. Pech für sie, dass Elard ausgerechnet dicke Freundschaft mit einem Restaurator geschlossen hatte und auf die Idee kam, die Mühle umbauen zu lassen.«
Ritters Stimme klang hasserfüllt, und Pia wurde erst jetzt das ganze Ausmaß seiner Rachsucht und Bitterkeit bewusst.
Er lachte boshaft. »Ach ja, und Vera hat Robert auf dem Gewissen. Als Marleen sich nämlich ausgerechnet in Robert – ihren Halbbruder – verliebte, war natürlich Holland in Not! Marleen war erst vierzehn und Robert schon Mitte zwanzig. Nach dem Unfall, bei dem Marleen ihr Bein verlor, flog Robert vom Mühlenhof. Kurz darauf begann seine kriminelle Karriere.«
»Ihre Frau hat ein Bein verloren?«, fragte Pia nach und erinnerte sich daran, dass Marleen Ritter tatsächlich ihr linkes Bein beim Laufen nachgezogen hatte.
»Ja. Wie gesagt.«
Eine ganze Weile war es in dem kleinen Büro ganz still, abgesehen vom Surren des Computers. Pia wechselte einen raschen Blick mit Bodenstein, dem wie üblich nicht anzusehen war, was er dachte. Wenn Ritters Informationen auch nur ansatzweise der Wahrheit entsprachen, dann waren sie tatsächlich Sprengstoff. Hatte Watkowiak sterben müssen, weil er von Ritter die Wahrheit über seine Herkunft erfahren und Vera Kaltensee damit konfrontiert hatte?
»Wird das auch ein Kapitel in Ihrem Buch werden?«, erkundigte sich Pia. »Das hört sich für mich nämlich ziemlich riskant an. «
Ritter zögerte mit einer Antwort, dann zuckte er die Schultern.
»Das ist es auch«, sagte er, ohne sie anzusehen. »Aber ich brauche das Geld.«
»Was sagt Ihre Frau dazu, dass Sie so etwas über ihre Familie und ihren Vater schreiben? Das wird ihr doch kaum gefallen.«
Ritter presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.
»Zwischen den Kaltensees und mir herrscht Krieg«, erwiderte er pathetisch. »Und in jedem Krieg gibt es Opfer.«
»Familie Kaltensee wird sich das nicht so einfach gefallen lassen.«
»Sie haben ihre Truppen schon gegen mich in Stellung gebracht«,
Weitere Kostenlose Bücher