Tiefe Wunden
neben der Tastatur seines Computers lag, schmetterte die ersten Akkorde von Beethovens Neunter, doch er warf nicht einmal einen Blick auf das Display.
»Ach, was soll’s«, sagte er plötzlich. »Ich war bei Goldberg, Schneider und der alten Frings, weil ich mit ihnen reden wollte. Vor zwei Jahren kam ich auf die Idee, eine Biographie über Vera zu schreiben. Sie war zuerst ganz begeistert und diktierte mir stundenlang, was sie über sich lesen wollte. Ich merkte nach ein paar Kapiteln, dass das stinklangweilig werden würde. Zwanzig Sätze über ihre Vergangenheit, mehr nicht. Dabei waren gerade die Vergangenheit, ihre adelige Herkunft, die dramatische Flucht mit einem kleinen Kind, der Verlust ihrer Familie und des Schlosses doch das, was den Leser interessiert, nicht irgendwelche Geschäftsabschlüsse und Wohltätigkeitskram.«
Das Handy, das zwischenzeitlich verstummt war, meldete sich mit einem einzelnen Piepton.
»Aber sie wollte nichts davon wissen. Entweder nach ihren Vorstellungen oder gar nicht. Kompromisslos wie eh und je, der alte Geier.« Ritter schnaubte verächtlich. »Ich redete auf sie ein, schlug ihr vor, aus ihrem Leben einen Roman zu machen. Veras Erlebnisse, alle Verluste, Siege, Höhepunkte und Niederlagen im Leben einer Frau, die Weltgeschichte am eigenen Leib erlebt hatte. Wir gerieten darüber in Streit. Sie verbot mir kategorisch, Nachforschungen anzustellen, sie verbot mir zu schreiben, sie wurde immer misstrauischer. Und dann kam die Sache mit der Kiste dazu. Ich machte den Fehler, Nowak zu verteidigen. Da war es aus.« Ritter seufzte.
»Mir ging es ziemlich mies«, gab er zu. »Ich hatte keine Aussicht mehr auf einen anständigen Job, eine schöne Wohnung, eine Zukunft.«
»Bis Sie Marleen geheiratet haben. Da hatten Sie alles wie der.«
»Was wollen Sie damit andeuten?«, fuhr Ritter auf, aber seine Empörung wirkte nicht echt.
»Dass Sie sich an Marleen herangemacht haben, um sich an Ihrer ehemaligen Chefin zu rächen.«
»Unsinn!«, widersprach er. »Wir haben uns rein zufällig getroffen. Ich habe mich in sie verliebt und sie sich in mich.«
»Warum haben Sie uns dann gestern nicht gesagt, dass Sie die Tochter von Siegbert Kaltensee geheiratet haben?« Pia glaubte ihm kein Wort. Im Vergleich mit der eleganten Dunkelhaarigen von vorhin zog die unscheinbare Marleen eindeutig den Kürzeren.
»Weil ich nicht angenommen habe, dass es eine Rolle spielt«, erwiderte Ritter angriffslustig.
»Ihr Privatleben interessiert uns nicht«, mischte sich Bodenstein vermittelnd ein. »Was war mit Goldberg und Watkowiak?«
»Ich wollte Informationen von ihnen.« Ritter wirkte erleichtert über den Themenwechsel und warf Pia einen feindseligen Blick zu, um sie danach völlig zu ignorieren. »Vor einer Weile trat jemand an mich heran und fragte mich, ob ich nicht doch die Biographie schreiben wolle. Allerdings über das wahre Leben der Vera Kaltensee, mit allen schmutzigen Details. Man bot mir sehr viel Geld, Informationen aus erster Hand und die Aussicht auf – Rache.«
»Wer war das?«, fragte Bodenstein. Ritter schüttelte den Kopf.
»Kann ich nicht sagen«, antwortete er. »Aber das Material, das ich bekam, war erstklassig.«
»Inwiefern?«
»Es waren Veras Tagebücher aus den Jahren 1934 bis 1943.« Ritter lächelte grimmig. »Detaillierte Hintergrundinformationen über all das, was Vera unbedingt geheim halten will. Bei der Lektüre bin ich auf jede Menge Unstimmigkeiten gestoßen, aber eins ist mir jetzt klar: Elard kann auf gar keinen Fall Veras Sohn sein. Die Tagebuchschreiberin hatte nämlich bis Dezember 1943 weder einen Verlobten noch einen Verehrer, bis dahin auch noch keinen Geschlechtsverkehr, geschweige denn ein Kind gehabt. Aber ... « Er machte eine wirkungsvolle Pause und blickte Bodenstein an. »Veras älterer Bruder Elard von Zeydlitz-Lauenburg unterhielt eine Liebesbeziehung zu einer jungen Frau namens Vicky, der Tochter des Gutsverwalters Endrikat. Sie brachte im August des Jahres 1942 einen Sohn zur Welt, der auf den Namen Heinrich Arno Elard getauft wurde.«
Bodenstein ließ diese Neuigkeit unkommentiert.
»Und weiter?«, fragte er nur. Ritter war über die ausbleibende Begeisterung merklich enttäuscht.
»Die Tagebücher wurden von einer Linkshänderin geschrieben. Vera ist Rechtshänderin«, schloss er knapp. »Und das ist der Beweis.«
»Der Beweis wofür?«, wollte Bodenstein wissen.
»Der Beweis dafür, dass Vera in Wirklichkeit nicht die ist, für die
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