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Tiefe Wunden

Titel: Tiefe Wunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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auszuräumen!«
    »Ich hab’s Ihnen erzählt«, beharrte Bodenstein. »Ganz sicher.«
    Pia schwieg daraufhin und überlegte angestrengt, ob das stimmte.
    Am Krankenhaus stellte Bodenstein das Auto im Wendehammer ab, ohne sich um die Proteste des jungen Mannes an der Information zu kümmern. Der Beamte, der Nowak überwachen sollte, gestand mit belämmerter Miene ein, dass er sich zweimal hatte übertölpeln lassen. Vor ungefähr einer Stunde sei ein Arzt aufgetaucht und habe Nowak zu einer Untersuchung abgeholt. Eine der Stationsschwestern hatte ihm sogar noch dabei geholfen, das Bett in den Aufzug zu schieben. Da ihm der Arzt versichert hatte, Nowak sei in etwa zwanzig Minuten vom Röntgen zurück, hatte der Beamte sich wieder auf den Stuhl neben der Zimmertür gesetzt.
    »Die Anweisung, ihn nicht aus den Augen zu lassen, war doch wohl eindeutig«, sagte Bodenstein eisig. »Ihre Bequemlichkeit wird für Sie Konsequenzen haben, das kann ich Ihnen versprechen!«
    »Was war mit dem Besuch heute Morgen?«, wollte Pia wissen. »Wie sind Sie darauf gekommen, dass der Mann Nowaks Vater war?«
    »Die Oma hat gesagt, er wäre ihr Sohn«, antwortete der Beamte mürrisch. »Damit war das für mich klar.«
    Die Stationsärztin, die Pia von ihrem ersten Besuch kannte, kam den Flur entlanggelaufen und teilte Bodenstein und Pia besorgt mit, dass Nowak ernsthaft in Gefahr sei, denn außer dem Trümmerbruch an der Hand habe er durch einen Messerstich eine Leberverletzung erlitten, mit der nicht zu spaßen sei.
    Leider waren die Angaben des Beamten, der auf Nowak hatte aufpassen sollen, nicht besonders hilfreich.
    »Der Arzt hatte so eine Haube auf und grüne Klamotten an«, sagte er lahm.
    »Herrje! Wie sah er aus? Alt, jung, dick, dünn, Glatze, Vollbart – irgendetwas muss Ihnen doch aufgefallen sein!« Bodenstein war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. Genau einen solchen Fehler hatte er vermeiden wollen, erst recht, seit Dr. Nicola Engel nur zu begierig auf sein Versagen zu lauern schien.
    »Er war so vierzig oder fünfzig, würde ich schätzen«, erinnerte sich der Beamte endlich. »Außerdem hatte er, glaube ich, eine Brille.«
    »Vierzig? Fünfzig? Oder sechzig? Vielleicht war es auch eine Frau?«, fragte Bodenstein sarkastisch. Sie standen in der Eingangshalle des Krankenhauses, wo inzwischen die Bereitschaftspolizei eingetroffen war. Vor den Aufzügen gab der Einsatzleiter seinen Beamten Anweisungen. Funkgeräte rauschten, neugierige Patienten drängten sich zwischen die Polizisten, die sich nun formierten, um Stockwerk um Stockwerk nach dem verschwundenen Marcus Nowak abzusuchen. Die Streife, die Pia bei Nowak zu Hause vorbeigeschickt hatte, meldete sich und teilte mit, dass er dort nie eingetroffen sei.
    »Ihr bleibt vor dem Firmentor stehen und meldet euch kurzvor Schichtende, damit wir die Ablösung schicken können«, wies Pia den Kollegen an.
    Bodensteins Handy klingelte. Man hatte das leere Krankenbett in einem Untersuchungsraum im Erdgeschoss direkt neben einem Notausgang gefunden. Die letzte Hoffnung, dass sich Nowak noch irgendwo im Gebäude aufhalten könnte, war hinüber: Blutspuren führten aus dem Raum, den Flur entlang bis hinaus ins Freie.
    »Das war’s dann wohl.« Resigniert wandte sich Bodenstein an Pia. »Kommen Sie, wir fahren zu Siegbert Kaltensee.«
     
    Elard Kaltensee war ein glänzender Theoretiker, aber kein Mann der Tat. Zeit seines Lebens hatte er sich vor Entscheidungen gedrückt und sie anderen Menschen in seinem Umfeld überlassen, doch diesmal hatte die Situation sein sofortiges Handeln erfordert. So schwer es ihm gefallen war, seinen Plan in die Tat umzusetzen: Es ging nicht länger mehr nur um ihn, doch nur er konnte diese Sache ein für alle Mal zu Ende bringen. Mit dreiundsechzig Jahren – nein, vierundsechzig, verbesserte er sich in Gedanken – hatte er endlich den Mut gefunden, die Dinge in die Hand zu nehmen. Er hatte die vermaledeite Kiste aus seiner Wohnung geschafft, das Kunsthaus vorübergehend geschlossen, alle Mitarbeiter nach Hause geschickt, online die Flüge gebucht und gepackt. Und eigenartigerweise ging es ihm plötzlich besser als je zuvor, auch ohne Tabletten. Er fühlte sich um Jahre verjüngt, entschlossen und tatkräftig. Elard Kaltensee lächelte. Vielleicht war es sein Vorteil, dass sie ihn alle für einen Feigling hielten, ihm traute niemand etwas Derartiges zu. Mal abgesehen von dieser Polizistin, aber auch sie hatte sich auf eine falsche Fährte locken

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