Tiefe Wunden
mein Halbbruder war. Meine Mutter war lange zu nachsichtig mit ihm.«
»Vielleicht, weil er ihr Enkelsohn war«, bemerkte Bodenstein beiläufig.
»Wie bitte?« Kaltensee richtete sich auf.
»Uns ist in den letzten Tagen so einiges zu Ohren gekommen«, erwiderte Bodenstein. »Unter anderem, dass in Wirklichkeit Sie der Vater von Watkowiak waren. Seine Mutter sei ein Dienstmädchen Ihrer Eltern gewesen. Nachdem Ihre Eltern von diesem nicht standesgemäßen Verhältnis Wind bekamen, wurden Sie nach Amerika geschickt, und Ihr Vater hat den Fauxpas auf sich genommen.«
Siegbert Kaltensee verschlug diese Behauptung buchstäblich die Sprache. Er fuhr sich mit der Hand nervös über die Glatze.
»Mein Gott«, murmelte er und erhob sich. »Ich hatte tat sächlich eine Affäre mit dem Dienstmädchen meiner Eltern. Sie hieß Danuta, war ein paar Jahre älter als ich und sehr hübsch.«
Er ging in seinem Büro hin und her.
»Mir war es ernst mit ihr, wie das so ist, wenn man sechzehn ist. Meine Eltern waren natürlich nicht begeistert und schickten mich nach Amerika, damit ich auf andere Gedanken käme.«
Unvermittelt blieb er stehen.
»Als ich nach acht Jahren mit Universitätsabschluss, Frau und Tochter zurückkam, hatte ich Danuta ganz vergessen.«
Er trat an das Fenster und starrte hinaus. Dachte er an all die Zurückweisungen und Versäumnisse, die seinen angeblichen Halbbruder erst in die Kriminalität und dann in den Tod getrieben hatten?
»Wie geht es übrigens Ihrer Mutter?«, wechselte Bodensteindas Thema. »Und wo ist sie? Wir müssen nämlich dringend mit ihr sprechen.«
Siegbert Kaltensee wandte sich um und nahm mit bleichem Gesicht wieder hinter dem Schreibtisch Platz. Geistesabwesend malte er mit einem Kugelschreiber Figuren auf einen Schreibblock.
»Sie ist derzeit nicht ansprechbar«, sagte er leise. »Die Ereignisse der letzten Tage haben sie sehr mitgenommen. Die Morde, die Robert begangen hat, und zuletzt die Nachricht von seinem Selbstmord, das war einfach zu viel für sie.«
»Watkowiak hat die Morde nicht begangen«, erwiderte Bodenstein. »Und sein Tod war auch kein Selbstmord. Bei der Obduktion wurde zweifelsfrei festgestellt, dass er durch Fremdeinwirkung gestorben ist.«
»Durch Fremdeinwirkung?«, fragte Kaltensee ungläubig. Die Hand, mit der er den Kugelschreiber hielt, zitterte leicht. »Aber wer ... und warum? Wer sollte Robert denn ermorden wollen?«
»Das fragen wir uns auch. Wir haben bei ihm die Waffe gefunden, mit der seine Freundin zuvor getötet wurde, aber er war nicht ihr Mörder.«
In das Schweigen klingelte das Telefon auf dem Schreibtisch. Siegbert Kaltensee hob ab, verbat sich barsch jegliche Störung und legte wieder auf.
»Können Sie sich vorstellen, wer die drei Freunde Ihrer Mutter umgebracht hat und was die Zahl 16145 bedeuten könnte?«
»Diese Zahl sagt mir nichts«, erwiderte Kaltensee und dachte kurz nach. »Ich will niemanden zu Unrecht verdächtigen, aber ich weiß von Goldberg, dass Elard ihn in den letzten Wochen massiv unter Druck gesetzt hat. Mein Bruder wollte nicht akzeptieren, dass Goldberg nichts über seine Vergangenheit wusste, schon gar nicht über seinen leiblichenVater. Und auch Ritter hatte Goldberg wiederholt besucht. Ihm traue ich drei Morde ohne weiteres zu.«
Pia hatte es nur selten erlebt, dass jemand so deutlich einen Mordverdacht äußerte. Sah Siegbert Kaltensee seine Chance, den beiden Männern, mit denen er jahrelang um die Gunst seiner Mutter rivalisiert hatte und die er aus tiefstem Herzen verabscheute, eins auszuwischen? Was würde geschehen, wenn Kaltensee erfuhr, dass Ritter nicht nur sein Schwiegersohn war, sondern auch der Vater seines Enkelkindes sein würde?
»Goldberg, Schneider und Frings sind mit einer Weltkriegswaffe und alter Munition erschossen worden. Woher sollte Ritter die haben?«, wandte sie nun ein. Kaltensee musterte sie eindringlich.
»Sie haben doch sicher auch die Geschichte von der verschwundenen Kiste gehört«, sagte er. »Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, was sie wohl enthalten hat. Was, wenn es Hinterlassenschaften meines Vaters waren? Er war Mitglied der NSDAP und außerdem bei der Wehrmacht gewesen. Vielleicht hat Ritter die Kiste mit seiner Waffe unterschlagen.«
»Wie denn das? Er durfte doch seit diesem Vorfall den Mühlenhof gar nicht mehr betreten«, warf Pia ein. Siegbert Kaltensee ließ sich nicht verunsichern.
»Ritter schert sich nicht um Verbote«, sagte er nur. »Wusste Ihre
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