Tiefe Wunden
23. August1942 kam unser Sohn zur Welt. Edda hatte Gut Lauenburg mittlerweile verlassen. Sie und Maria Willumat, die Tochter vom NSDAP-Ortsgruppenleiter aus Doben, hatten sich zum Dienst in einem Frauen-Gefangenenlager gemeldet. Seit sie weg war und nicht mehr herumschnüffeln konnte, haben Elard und Vera heimlich Geld, Schmuck und Wertgegenstände hinüber ins Reich beziehungsweise in die Schweiz geschmuggelt. Elard war davon überzeugt, dass der Krieg verloren war, und wollte, dass wenigstens Vera, Heini und ich in den Westen gehen. Die Familie seiner Mutter besaß ein Anwesen in der Nähe von Frankfurt, da wollte er uns hinbringen.«
»Der Mühlenhof«, bemerkte Pia leise.
»Aber dazu kam es nicht mehr. Elard wurde im November 44 abgeschossen und kam schwer verletzt nach Gut Lauenburg. Vera hatte heimlich ihr Schweizer Mädchenpensionat verlassen und war auch über Weihnachten zu Hause. Wir haben Elard geholfen, die Flucht vorzubereiten, aber die Treckerlaubnis kam erst am 15. Januar. Viel zu spät, die Russen waren nur noch zwanzig Kilometer entfernt. Der Treck ist am Morgen des 16. Januar in aller Frühe aufgebrochen. Ich wollte nicht ohne Elard und meine Eltern gehen, und weil ich blieb, blieb auch Vera. Wir dachten, dass es später noch die Möglichkeit geben würde, in den Westen zu gelangen.«
Auguste Nowak stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Elards Eltern wollten lieber sterben als das Gut verlassen. Sie waren beide schon weit über sechzig und hatten ihre ältesten Söhne im Ersten Weltkrieg verloren. Meine Eltern waren schwer krank, Tuberkulose. Auch meine jüngere Schwester Ida lag mit über vierzig Fieber im Bett. Wir versteckten uns im Keller des Schlosses, versorgt mit Lebensmitteln und Bettzeug, und hofften, dass die Russen uns nicht entdecken und weiterziehen würden. Es war gegen Mittag, als ein Auto in den Hof fuhr, ein Kübelwagen. Veras Vater glaubte, dass Schwinderke jemanden geschickt hatte, um die Kranken zu transportieren, aber das stimmte nicht.«
» Wer ist denn gekommen?«, fragte Ritter nach.
»Edda und Maria, Oskar und dessen SS-Kamerad Hans.«
Wieder deckten sich Auguste Nowaks Schilderungen mit der Aussage des ehemaligen Zwangsarbeiters. Pia hielt den Atem an und beugte sich gespannt vor.
»Sie kamen ins Schloss, fanden uns im Keller. Oskar bedrohte uns mit einer Pistole und zwang Vera und mich, eine Grube zu graben. Der Boden war zwar sandig, aber so fest, dass wir es nicht schafften, deshalb griffen Edda und Hans zu den Schaufeln. Niemand sagte einen Ton. Der Freiherr und die Freifrau knieten sich hin und ...«
Die Stimme von Auguste Nowak, bis dahin ruhig und unbeteiligt, begann zu zittern.
»... fingen an zu beten. Heini schrie die ganze Zeit. Meine kleine Schwester Ida stand nur da, die Tränen liefen ihr über die Backen. Ich sehe sie heute noch vor mir. Wir mussten uns in einer Reihe aufstellen, mit dem Gesicht zur Wand. Maria riss mir Heini vom Arm und zerrte ihn weg. Der Junge hat geschrien und geschrien ...«
Es war so still im Besprechungsraum, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können.
»Oskar tötete zuerst den Freiherrn und die Freifrau mit einem Genickschuss, danach meine kleine Schwester Ida. Sie war erst neun Jahre alt. Dann gab er die Pistole Maria, sie schoss meiner Mutter in beide Knie und dann in den Kopf, danach erschoss sie meinen Vater. Elard und ich hielten uns an den Händen. Edda nahm Maria die Pistole ab. Ich habe ihr in die Augen gesehen, sie waren voller Hass. Sie hat gelacht, als sie erst Elard, dann Vera in den Kopf schoss. Zum Schluss schoss sie auf mich. Ich höre sie heute noch lachen ... «
Pia konnte es kaum fassen. Welche Kraft musste es die alte Frau gekostet haben, so nüchtern und sachlich über dieses Massaker an ihrer Familie zu sprechen! Wie konnte man mit solchen Erinnerungen weiterleben, ohne verrückt zu werden? Pia dachte an das, was Miriam ihr über die Schicksale der Frauen nach dem Zweiten Weltkrieg im Osten erzählt hatte, die sie im Rahmen ihres Forschungsprojektes befragt hatte. Unsägliches hatten diese Frauen erlebt und ihr ganzes Leben lang nicht darüber gesprochen. Wie auch Auguste Nowak.
»Ich überlebte den Kopfschuss wie durch ein Wunder, die Kugel war durch den Mund wieder ausgetreten. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich ohne Bewusstsein war, aber irgendwie gelangte ich aus eigener Kraft aus der Grube. Sie hatten Sand über uns geschaufelt, und ich hatte wohl nur deshalb atmen können, weil ich
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