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Tiefe Wunden

Titel: Tiefe Wunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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denken.«
    »Professor Elard Kaltensee ist also Ihr Sohn?«, fragte Thomas Ritter nach.
    »Ja. Er ist der Sohn von mir und meinem geliebten Elard«, bestätigte Auguste Nowak. »Er ist der Freiherr von Zeydlitz-Lauenburg, denn Elard und ich wurden am Weihnachtstag 1944 von Pastor Kunisch in der Bibliothek von Gut Lauenburg getraut.«
    Die Mitarbeiter des K11 saßen eine Weile schweigend um den Tisch herum, als das Band zu Ende war.
    »Sie war heute hier und wollte mit mir sprechen«, sagte Pia in die Stille. »Ganz sicher wollte sie mir genau das erzählen, damit wir nicht länger ihren Enkelsohn verdächtigen.«
    »Und ihren Sohn«, fügte Bodenstein hinzu. »Professor Kaltensee.«
    »Haben Sie sie etwa gehen lassen?«, fragte Dr. Nicola Engel verständnislos.
    »Ich konnte ja nicht wissen, dass sie unsere Mörderin ist!«, entgegnete Pia heftig. »Das Handy von Nowak war gerade geortet worden, wir mussten nach Frankfurt.«
    »Sie wird nach Hause gefahren sein«, sagte Bodenstein. »Wir werden sie abholen. Wahrscheinlich weiß sie, wo Elard jetzt ist.«
    »Viel wahrscheinlicher ist, dass sie erst noch Vera Kaltensee tötet«, meldete sich Ostermann zu Wort. »Wenn sie das nicht schon längst getan hat.«
     
    Bodenstein und Behnke fuhren nach Fischbach, um Auguste Nowak zu verhaften, während Pia am Bildschirm die Biographie von Vera Kaltensee las, auf der Suche nach einer Erklärung für Katharina Ehrmanns Beziehung zu Eugen Kaltensee. Die Lebensgeschichte von Auguste Nowak hatte sie tief erschüttert, und obwohl sie als Polizistin und Exfrau eines Rechtsmediziners die düstere Seite der Menschheit zur Genüge kannte, war sie fassungslos über die eiskalte Grausamkeit der vier Mörder. Mit Überlebenswillen in einer Ausnahmesituation war diese Tat nicht zu rechtfertigen, vielmehr hatten sie sich sogar in Lebensgefahr begeben, um ihre Gräueltat zu begehen. Wie konnte man so etwas verdrängen, mit einer solchen Bluttat auf dem Gewissen weiterleben? Und Auguste Nowak, was hatte sie durchgemacht! Vor ihren Augen waren ihr Mann, ihre Eltern, ihre beste Freundin, ihre kleine Schwester erschossen worden. Ihr Kind entführt, sie selbst verschleppt! Pia konnte nicht nachvollziehen, woher die Frau diese Kraft genommen haben mochte, Arbeitslager, Erniedrigung, Vergewaltigungen, Hunger und Krankheit zu überleben. War es die Hoffnung, ihren Sohn wiederzufinden, die sie am Leben erhalten hatte, oder der Gedanke an Rache? Auguste Nowak würde sich auch mit fünfundachtzig Jahren vor Gericht als dreifache Mörderin verantworten müssen, so sah es das Strafgesetzbuch vor. Ausgerechnet jetzt, wo sie ihren verloren geglaubten Sohn wiedergefunden hatte, würde sie ins Gefängnis gehen müssen. Und es gab keine Beweise, die ihre Taten irgendwie rechtfertigen konnten. Pia hielt beim Lesen inne. Vielleicht doch! Die Idee erschien ihr zunächst wahnwitzig, aber bei genauerem Nachdenken durchaus realistisch.Gerade als Pia die Nummer von Hennings Privatanschluss wählte, betrat Bodenstein ihr Büro mit düsterer Miene.
    »Wir müssen Auguste Nowak zur Fahndung ausschreiben«, verkündete er.
    Pia legte einen Zeigefinger an die Lippen, denn Henning meldete sich am anderen Ende der Leitung.
    »Was gibt’s?«, fragte er übellaunig. Pia achtete nicht dar auf, sondern erzählte ihm in Kurzfassung die Geschichte von Auguste Nowak. Bodenstein blickte Pia fragend an. Sie stellte das Telefon laut und informierte Henning darüber, dass ihr Chef mithörte.
    »Kann man noch nach über sechzig Jahren aus Knochen DNA extrahieren?«, fragte sie.
    »Unter Umständen schon.« Der gereizte Tonfall war aus Hennings Stimme verschwunden, er klang neugierig. »Was hast du vor?«
    »Ich habe das noch nicht mit meinem Chef abgesprochen«, erwiderte Pia und sah Bodenstein dabei an. »Aber du und ich, wir sollten nach Polen fahren. Fliegen wäre natürlich noch besser. Miriam könnte uns abholen.«
    »Wie? Jetzt gleich?«
    »Das wäre am besten. Die Zeit drängt.«
    »Ich habe nichts mehr vor heute Abend«, entgegnete Henning mit gesenkter Stimme. »Im Gegenteil. Du würdest mir einen Gefallen tun.«
    Pia verstand die Andeutung und grinste. Staatsanwältin Löblich saß ihm im Nacken.
    »Mit dem Auto brauchen wir etwa achtzehn Stunden nach Masuren.«
    »Ich habe an Bernd gedacht. Der hat doch seine Cessna noch, oder?«
    Bodenstein schüttelte den Kopf, aber Pia achtete nicht auf ihn.
    »Ich rufe ihn an«, sagte Henning Kirchhoff. »Ich melde mich gleich wieder.

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