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Tiefe Wunden

Titel: Tiefe Wunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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halb unter Elards Leiche gelegen hatte. Ich schleppte mich nach oben, auf der Suche nach Heini. Das Schloss brannte lichterloh, und ich lief vier russischen Soldaten in die Arme, die mich trotz meiner Verletzung vergewaltigten und erst danach in ein Krankenlager brachten. Als ich einigermaßen bei Kräften war, wurde ich mit anderen Mädchen und Frauen in einen Viehwaggon gepfercht. Es war zu eng, um sich hinzusetzen, und nur, wenn die Posten mal gute Laune hatten, gab es einen Eimer Wasser für vierzig Menschen. Wir kamen nach Karelien, mussten am Onegasee Gleise verlegen, Holz fällen und Gräben ziehen, bei minus vierzig Grad. Um mich herum starben sie wie die Fliegen, manche Mädchen waren gerade mal vierzehn oder fünfzehn. Ich überlebte fünf Jahre Arbeitslager nur deshalb, weil mich der Lagerleiter zu mögen schien und mir mehr zu essen gab als den anderen. Ich kam erst 1950 aus Russland zurück, auf dem Arm ein Baby, das Abschiedsgeschenk des Lagerleiters.«
    »Der Vater von Marcus«, folgerte Pia. »Manfred Nowak.«
    »Im Lager Friedland lernte ich meinen Mann kennen. Wir bekamen Arbeit auf einem Bauernhof im Sauerland. Die Hoffnung, meinen ältesten Sohn wiederzufinden, hatte ich längst aufgegeben. Gesprochen habe ich darüber nie. Ich kam auch später nie auf den Gedanken, dass es sich bei der berühmten Vera Kaltensee, von der man hin und wieder hörte oder las, um Edda handeln könnte. Erst als mein Enkelsohn Marcus und ich im Sommer vor zwei Jahren eine Reise nach Ostpreußen unternahmen und wir in Gizycko, dem ehemaligen Lötzen, Elard Kaltensee begegneten, begriff ich, wer er war und wer seit meinem Umzug nach Fischbach ganz in meiner Nähe gelebt hatte.«
    Auguste Nowak machte wieder eine Pause.
    »Ich behielt mein Wissen für mich. Ein Jahr später arbeitete Marcus auf dem Mühlenhof, und eines Tages brachten er und Elard einen alten Überseekoffer mit. Es war ein Schock, als ich all diese Sachen sah, die SS-Uniform, die Bücher, die Zeitungen von damals. Und diese Pistole. Ich wusste sofort, dass es genau diese Pistole gewesen sein musste, mit der sie meine ganze Familie erschossen hatten. Sechzig Jahre lang hatte sie in der Kiste gelegen, Vera hatte sie nie weggeworfen. Und als Sie, Dr. Ritter, Marcus und Elard von Vera und ihren drei alten Freunden erzählt haben, wusste ich gleich, wer sie in Wirklichkeit waren. Elard nahm die Kiste an sich, aber Marcus legte die Pistole und die Patronen in seinen Tresor. Ich fand heraus, wo sie lebten, die Mörder, und als Marcus eines Abends weggefahren war, nahm ich die Pistole und fuhr zu Oskar. Ausgerechnet er hatte sich all die Jahre als Jude getarnt! Er hat mich sofort erkannt und bettelte um sein Leben, aber ich erschoss ihn so, wie er Elards Eltern damals erschossen hat. Dann kam ich auf die Idee, Edda eine Nachricht zu hinterlassen. Ich wusste, dass sie sofort verstehen würde, was die fünf Zahlen bedeuten, und war mir sicher, dass sie Todesangst bekommen würde, weil sie ja keine Ahnung hatte, wer davon wissen konnte. Drei Tage später habe ich Hans erschossen.«
    » Wie sind Sie zu Goldberg und Schneider hingekommen?«, unterbrach Ritter.
    »Mit einem Lieferwagen meines Enkelsohnes«, antwortete Auguste Nowak. »Das war auch das größte Problem bei Maria. Ich hatte herausgefunden, dass in dem Altersheim eine Theateraufführung mit Feuerwerk stattfinden sollte. An dem Abend hatte ich aber kein Auto, deshalb fuhr ich mit dem Bus und musste meinen Enkelsohn bitten, mich dort abzuholen. Der Junge hat sich nicht einmal gewundert, was ich im vornehmen Taunusblick wollte, er war zu sehr mit sich selbst und seinen Problemen beschäftigt. Ich habe Maria in ihrer Wohnung mit einem Strumpf geknebelt und dann im Rollstuhl durch den Park in den Wald geschoben. Niemand hat uns beachtet, und beim Feuerwerk hat keiner die drei Schüsse gehört.«
    Auguste Nowak verstummte. Im Raum war es totenstill.Die tragische Lebensgeschichte der alten Frau und ihr Geständnis erschütterten selbst die erfahrensten Kriminalpolizisten.
    »Ich weiß, dass in der Bibel steht ›Du sollst nicht töten‹«, sprach Auguste Nowak weiter, ihre Stimme klang mit einem Mal brüchig. »Aber in der Bibel steht auch ›Auge um Auge, Zahn um Zahn‹. Als ich begriffen hatte, wer sie waren, Vera und ihre Freunde, da wusste ich, dass ich dieses Unrecht nicht ungesühnt lassen durfte. Meine kleine Schwester Ida wäre heute einundsiebzig, sie könnte noch leben. Daran musste ich die ganze Zeit

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