Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Tiefe Wunden

Titel: Tiefe Wunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
Vom Netzwerk:
Passkontrolle drei Minuten.
    »Ah, Dr. Frankenstein.« Miriam reichte Henning Kirchhoff die Hand, nachdem sie Pia herzlich umarmt hatte. »Willkommen in Polen!«
    »Sie sind wirklich nachtragend«, stellte Henning fest und grinste. Miriam setzte die Sonnenbrille ab und musterte ihn, dann grinste sie auch.
    »Ich habe ein Gedächtnis wie ein Elefant«, bestätigte sie und ergriff eine von Kirchhoffs Taschen. »Kommt mit. Bis nach Doba sind es ungefähr hundert Kilometer zu fahren.«
    In einem gemieteten Ford Focus brausten sie über Landstraßen Richtung Nordosten ins Herz Masurens. Miriam und Henning unterhielten sich über die Schlossruine und stellten Vermutungen an, ob der Keller nach sechzig Jahren Vernachlässigung überhaupt noch zugänglich sein würde. Pia saß auf der Rückbank, hörte mit einem Ohr zu und blickte stumm aus dem Fenster. Sie hatte keine Beziehungen zu diesem Land und seiner wechselhaften und traurigen Vergangenheit. Ostpreußen war bisher für sie nur ein abstrakter Begriff gewesen, nicht mehr als ein immer wiederkehrendes Thema von Fernsehdokumentationen und Spielfilmen. Flucht und Vertreibung hatte ihre Familie nicht gekannt. Vor den Fenstern huschten im dunstigen Licht des Morgens Hügel, Wälder und Felder vorbei, noch lagen über den vielen kleinen und größeren Seen wattige Nebelschwaden, diesich nur allmählich unter den warmen Strahlen der Maisonne auflösten.
    Pias Gedanken wanderten zu Bodenstein. Sein Vertrauen berührte sie tief. Er hätte ihr das alles nicht erzählen müssen, wollte aber offenbar ehrlich zu ihr sein. Dr. Engel hatte es aus rein persönlichen Gründen auf ihn abgesehen, das war ungerecht, aber nicht zu ändern. Die einzige Möglichkeit, ihm zu helfen, bestand darin, hier und heute keinen Fehler zu machen. Bei Mragowo bog Miriam auf eine unwegsamere schmale Landstraße ab, die sie an verschlafenen Gehöften und kleinen Dörfern vorbeiführte. Idyllisch, die alten Alleen! Und zwischen den dunklen Wäldern blitzte immer wieder blaues Wasser auf. Masuren, hatte Miriam erklärt, sei die größte Seenplatte Europas. Eine Weile später fuhren sie am Kisajno-See vorbei, durch die kleinen Orte Kamionki und Doba. Pia wählte Bodensteins Nummer.
    »Wir sind gleich da«, verkündete sie. »Wie ist die Stimmung?«
    »Bis jetzt noch gut«, erwiderte er. »Ich habe Frau Dr. Engel noch nicht gesehen. Allerdings ist Auguste Nowak bisher nicht wiederaufgetaucht, und auch die anderen sind ... le ... erschwun ... eu ... Morgen ... mit Améry ... sprochen, mit ... nichts ... bekommen ... sie ...«
    »Ich kann Sie nur ganz schlecht hören!«, rief Pia, dann riss die Verbindung ganz ab. In den Weiten des ehemaligen Ostpreußens gab es nicht viele Sendemasten, das Mobilfunknetz brach regelmäßig zusammen, wie Miriam schon erwähnt hatte. »Mist«, fluchte sie.
    Miriam stoppte an einer Kreuzung und bog nach rechts in einen asphaltierten Waldweg ein. Die Fahrt ging ein paar hundert Meter durch einen lichten Laubwald, und das Auto holperte von einem Schlagloch zum nächsten, so dass Pia unsanft mit dem Kopf gegen das Seitenfenster knallte.
    »Passt auf«, sagte Miriam, »jetzt verschlägt’s euch gleich den Atem!«
    Pia beugte sich vor und blickte zwischen den Lehnen der Vordersitze hindurch, als sie den Wald hinter sich ließen. Zur Rechten lag dunkel und glitzernd der Dobensee, links dehnten sich weite Hügel, hin und wieder von Baumgruppen und Wäldern unterbrochen.
    »Diese Ruinen links, das war früher das Dorf Lauenburg«, erklärte Miriam. »Beinahe alle Einwohner arbeiteten auf dem Gut. Es gab eine Schule, einen Laden, eine Kirche und natürlich eine Dorfkneipe.«
    Von Lauenburg war fast nur noch die Kirche übrig. Auf dem halbeingestürzten Kirchturm aus rotem Backstein thronte ein Storchennest.
    »Man hat das Dorf quasi als Steinbruch benutzt«, wusste Miriam. »Auch die meisten Wirtschaftsgebäude des Gutes und die Schlossmauer sind auf diese Weise verschwunden. Vom Schloss selbst ist dagegen noch ziemlich viel erhalten. «
    Aus der Ferne war noch die Symmetrie des Gutshofes zu erkennen: das Schloss in der Mitte direkt am Ufer des Sees, u-förmig umgeben von den inzwischen abgetragenen Gebäuden, deren Grundmauern durch leuchtendes Grün schimmerten. Früher musste eine gepflegte Allee auf das Hauptportal des Schlosses zugeführt haben, aber nun wuchsen Bäume in wildem Durcheinander an Stellen, an denen man sie früher sicherlich nicht geduldet hätte.
    Miriam steuerte durch

Weitere Kostenlose Bücher