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Tiefe Wunden

Titel: Tiefe Wunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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den Torbogen, der im Gegensatz zum Rest der Mauer noch erhalten war, und hielt vor der Schlossruine. Pia blickte sich um. Vögel zwitscherten in den Ästen der mächtigen Bäume. Aus der Nähe betrachtet, wirkten die Überreste der einstigen Gutsanlage deprimierend, das leuchtende Grün entpuppte sich als Unkraut und Gestrüpp,Brennnesseln wucherten meterhoch, Efeu bedeckte beinahe jede freie Fläche. Was für ein Gefühl musste es für Auguste Nowak gewesen sein, als sie nach sechzig Jahren der Verdrängung und des Vergessenwollens wieder hierhergekommen war und den Ort der glücklichsten und schrecklichsten Momente ihres Lebens in diesem Zustand vorgefunden hatte? Vielleicht hatte sie genau an dieser Stelle beschlossen, für das, was man ihr angetan hatte, Rache zu nehmen.
    »Was diese Mauern wohl erzählen könnten«, murmelte Pia und stapfte über das weitläufige Gelände, das nach Jahrzehnten der Vernachlässigung beinahe vollständig von der Natur zurückerobert worden war. Hinter der brandgeschwärzten Ruine des Schlosses glitzerte silbrig der See. Hoch am tiefblauen Himmel flogen Störche, und auf den zerbrochenen Stufen des Schlosses räkelte sich in der Sonne eine fette Katze, die sich wohl als legitime Nachfolgerin der Zeydlitz-Lauenburgs fühlte. Vor Pias innerem Auge erstand das Gut, wie es einmal ausgesehen haben mochte. Das Schloss in der Mitte, Verwalterhaus, Schmiede, Stallungen. Auf einmal konnte sie nachvollziehen, weshalb die Menschen, die aus diesem wunderschönen Land vertrieben worden waren, den endgültigen Verlust ihrer Heimat bis heute nicht akzeptieren wollten.
    »Pia! «, rief Henning ungeduldig. »Kannst du wohl mal herkommen?«
    »Ja, ich komme.« Sie wandte sich um. Aus dem Augenwinkel nahm sie ein Aufblitzen wahr. Sonnenlicht auf Metall. Neugierig umrundete sie einen von Brennnesseln überwucherten Schutthaufen und erstarrte. Der Schreck fuhr ihr bis in die Fingerspitzen. Vor ihr stand die dunkle Maybach-Limousine von Vera Kaltensee, verstaubt von einer langen Fahrt, die Windschutzscheibe von Insekten verklebt. Pia legte die Hand auf die Motorhaube. Sie war noch warm.
     
    »Katharina Ehrmann war die einzige Freundin, die Jutta Kaltensee je gehabt hatte. Sie hat in allen Ferien bei Eugen Kaltensee im Büro gejobbt, und er mochte sie.« Ostermann sah übernächtigt aus, was kein Wunder war, denn er hatte das komplette Manuskript in der vergangenen Nacht durchgelesen. »An dem Abend, als Juttas Vater starb, war sie auf dem Mühlenhof und wurde so zufällig Augenzeugin des Mordes.«
    »Tatsächlich Mord?«, vergewisserte Bodenstein sich. Er saß an seinem Schreibtisch und hatte in den Akten nach dem Protokoll gesucht, das Kathrin Fachinger nach ihrem Gespräch mit Anita Frings’ Nachbarn aus dem Taunusblick angefertigt hatte, als Ostermann hereingekommen war. Zu seiner unendlichen Erleichterung hatte Cosima ihm gestern Nacht keine Szene gemacht und ihm auch geglaubt, dass er unschuldig in eine Falle getappt war. Sie hatte schon beim Mittagessen mit Jutta Kaltensee gemerkt, dass die angebliche Imagekampagne nur ein lahmer Vorwand gewesen war. Alles andere würde er schon bewältigen, auch Nicolas Bestrebungen, ihn loszuwerden. Pia Kirchhoff gegen ihre ausdrückliche Anweisung nach Polen reisen zu lassen war – nüchtern betrachtet – in seiner derzeitigen Lage beruflicher Selbstmord. Aber im Keller des Schlosses in Masuren lag der Schlüssel für die Ereignisse, die ihnen in zehn Tagen fünf Leichen beschert hatten. Bodenstein hoffte inständig, dass Pias Unternehmung von Erfolg gekrönt war, sonst konnte er seinen Hut nehmen.
    »Ja, es war zweifellos Mord«, erwiderte Ostermann nun. »Warten Sie, ich lese Ihnen die Stelle aus dem Manuskript vor: Vera stieß ihn die steile Kellertreppe hinunter und lief hinterher, als ob sie ihm helfen wollte. Sie kniete neben ihm, legte ihr Ohr an seinen Mund, und als sie bemerkte, dass er noch atmete, erstickte sie ihn mit seinem eigenen Pullover. Danach ging sie ungerührt nach oben und setzte sich an ihren Schreibtisch. Erst zwei Stunden später fand man die Leiche. Ein Verdächtiger war schnell zur Hand: Elard hatte nach einem heftigen Streit mit seinem Stiefvater am späten Nachmittag in großer Eile den Mühlenhof verlassen, um noch am selben Abend mit dem Nachtzug nach Paris zu fahren.«
    Bodenstein nickte nachdenklich. Thomas Ritter musste sehr naiv oder wahrhaftig blind vor Rachsucht sein, ein solches Buch zu schreiben! Clever von Katharina

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