Tiefe Wunden
sie so schlecht nein sagen konnte. Immer wieder hatte sie Mitleid mit ihm und nahm ihn mit nach Hause, obwohl sie sich schon ein Dutzend Mal geschworen hatte, es nicht mehr zu tun. Er hatte nie Geld und war dazu noch eifersüchtig.
Sie ging hinüber ins Schlafzimmer und stopfte das benutzte Bettzeug in den Kleiderschrank. Aus der Kiste unter dem Bett holte sie die Seidenbettwäsche heraus, die sie benutzte, wenn sie »Besuch« erwartete. Vor zwei Jahren hatte sie damit angefangen, in der Zeitung zu inserieren. Der Text »Manu, 19, ganz privat – knackig und tabulos« gefiel vielen Männern, und wenn sie erst mal da waren, interessierte sie es nicht mehr, dass sie weder Manu hieß noch neunzehn Jahre jung war. Manche kamen regelmäßig: ein Busfahrer, ein paar Rentner, der Briefträger und der Kassierer von der Bank in seiner Mittagspause. Sie nahm dreißig Euro für das normale Programm, fünfzig Euro für französisch und hundert für Extras, die noch nie jemand gewünscht hatte. Zusammen mit dem Hartz-IV-Geld konnte sie so ganz gut leben, jeden Monat was zurücklegen und sich hin und wieder sogar etwas Besonderes gönnen. Noch zwei, drei Jahre, und sie würde sich ihren Traum erfüllen können: ein kleines Häuschen an einem See in Kanada. Dafür lernte sie auch nebenher Englisch.
Es klingelte. Sie warf einen Blick auf die Uhr in der Küche. Viertel vor zehn. Ihr Donnerstagmorgen-Stammfreier war pünktlich. Er war bei der Müllabfuhr und verbrachte einmal wöchentlich seine Frühstückspause bei ihr. So auch heute. Die fünfzig Euro waren schnell verdientes Geld, eine Viertelstunde später war er wieder verschwunden. Nur fünf Minuten später klopfte es an der Wohnungstür. Das konntenur Robert sein, denn eigentlich erwartete Monika Krämer erst gegen zwölf wieder Besuch. Was dachte sich dieser Vollidiot dabei, wieder hier aufzutauchen? Die Bullen hockten womöglich unten in ihrem Auto und warteten nur auf ihn! Wütend marschierte sie zur Tür und riss sie auf.
»Was soll das ... «, begann sie, verstummte dann aber, als sie einen grauhaarigen Fremden vor sich stehen sah.
»Hallo«, sagte der Mann. Er hatte einen Schnauzbart, trug eine altmodische Brille mit getönten Gläsern und gehörte eindeutig in die Kategorie »erträglich«. Kein schwitzender Fettsack mit Haaren auf dem Rücken, kein Schmutzfink, der seit Wochen nicht geduscht hatte, und keiner, der hinterher um die Kohle feilschen würde.
»Komm rein«, sagte sie und drehte sich um. Im Vorbei gehen warf sie einen prüfenden Blick in den Spiegel neben der Wohnungstür. Wie neunzehn sah sie zwar nicht mehr aus, aber vielleicht wie dreiundzwanzig. Weggegangen war bis jetzt auf jeden Fall noch nie einer.
»Hier geht’s lang.« Monika Krämer deutete in Richtung Schlafzimmer. Der Mann stand immer noch an der Wohnungstür, und ihr fiel auf, dass er Handschuhe trug. Ihr Herz begann zu klopfen. War der Typ pervers?
»An den Händen brauchst du kein Gummi«, versuchte sie zu scherzen. Sie hatte plötzlich ein ungutes Gefühl. »Wo ist Robert?«, fragte er auf einmal. Scheiße! War das auch ein Bulle?
»Keine Ahnung«, erwiderte sie. »Das hab ich deinen Kollegen eben schon gesagt, Mann!«
Ohne sie aus den Augen zu lassen, griff er hinter sich und drehte den Schlüssel der Wohnungstür um. Plötzlich bekam sie Angst. Der war nicht von der Polizei! Mit wem hatte sich Robert denn jetzt schon wieder angelegt? Schuldete er irgendjemandem Geld?
»Du wirst ja wohl wissen, wo er sich rumtreibt, wenn er nicht bei dir ist«, sagte der Fremde. Monika Krämer überlegte kurz und kam zu dem Schluss, dass Robert es nicht wert war, sich wegen ihm in irgendetwas reinziehen zu lassen.
»Er pennt manchmal in so ’nem leerstehenden Haus in Königstein«, erwiderte sie deshalb. »In der Altstadt, am Ende der Fußgängerzone. Kann sein, dass er da hin ist, um sich vor den Bullen zu verstecken. Die suchen ihn ja.«
»Okay.« Der Mann nickte und musterte sie. »Danke.«
Irgendwie sah er traurig aus mit dem Schnauzbart und der dicken Brille. Ein bisschen wie der Typ von der Bank. Monika Krämer entspannte sich und lächelte. Vielleicht konnte sie noch ein Scheinchen rausschlagen.
»Wie wär’s?« Sie lächelte kokett. »Für ’n Zwanziger blas ich dir einen.«
Der Mann kam näher, bis er direkt vor ihr stand. Sein Gesichtsausdruck war ruhig, beinahe gleichgültig. Er machte eine schnelle Bewegung mit der rechten Hand, und Monika Krämer spürte einen brennenden
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