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Tiefe Wunden

Titel: Tiefe Wunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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offen, aber ein Mann in dunkler Uniform und mit Knopf im Ohr bedeutete Pia anzuhalten und das Fenster herunterzulassen. Ein weiterer Uniformierter stand in der Nähe. Sie präsentierte ihm ihren Ausweis und sagte, dass sie mit Vera Kaltensee sprechen wollten.
    »Moment.« Der Sicherheitsmann stellte sich vor die Kühlerhaube und sprach in ein Mikrofon, das er wohl am Jackenaufschlag trug. Nach einer Weile nickte er, trat zur Seite und bedeutete Pia, sie dürfe weiterfahren. Vor dem Herrenhaus parkten drei Autos, ein Klon des ersten Wachmanns vom Tor stoppte ihre Fahrt. Erneute Ausweiskontrolle, erneutes Nachfragen.
    »Was geht denn hier ab?«, murmelte Pia. »Das ist doch die reinste Schikane!«
    Sie hatte sich fest vorgenommen, beim nächsten Gespräch mit Vera Kaltensee keine Gemütsregung zu zeigen, selbst wenn sich die alte Dame in Weinkrämpfen auf dem Fußboden winden sollte. Die nächste Überprüfung fand an der Haustür statt, und allmählich wurde Pia sauer.
    »Was soll denn der ganze Zirkus?«, wandte sie sich an den grauhaarigen Mann, der sie und Bodenstein nun ins Haus eskortierte. Es war derselbe, der sie tags zuvor aufgehalten hatte. Moormann, wenn Pia sich richtig erinnerte. Heute trug er einen dunklen Rollkragenpullover und eine schwarze Jeans.
    »Es gab einen Einbruchsversuch. Gestern Abend«, sagte er mit besorgter Miene. »Deshalb wurden die Sicherheitsvorkehrungen verschärft. Die gnädige Frau ist ja oft ganz allein hier im Haus.«
    Pia erinnerte sich gut, wie sie sich selbst in ihrem Haus nach einem Einbruch im vergangenen Sommer gefürchtet hatte. Sie hatte Verständnis für Vera Kaltensees Angst. Die alte Dame war immerhin millionenschwer und ziemlich bekannt. Wahrscheinlich hortete sie in diesem Haus Kunstschätze und Schmuck von unschätzbarem Wert, die immer wieder eine Verlockung für Kunsträuber und Einbrecher aller Art darstellten.
    »Bitte warten Sie hier.« Moormann blieb vor einer anderen Tür als gestern stehen. Gedämpft drangen erregte Stimmen aus dem Raum, die in dem Moment verstummten, als Moormann anklopfte. Er trat ein und schloss die Tür hinter sich. Bodenstein setzte sich mit gleichmütiger Miene auf einen Sessel mit staubigem Brokatbezug. Pia blickte sich neugierig in der großen Empfangshalle um. Das Sonnenlicht, das durch drei spitzgieblige Kirchenfenster über der Brüstung der Freitreppe fiel, zeichnete bunte Muster auf den schwarzweißen Marmorboden. An der Wand hingen dunkle goldgerahmte Porträts neben drei ungewöhnlichen Jagdtrophäen: ein mächtiger ausgestopfter Elchkopf, der Schädel eines Bären und ein gewaltiges Hirschgeweih. Bei genauerem Hinsehen fiel Pia einmal mehr auf, dass das große Haus nicht sonderlich gut gepflegt war. Der Boden war stumpf, die Tapeten verschossen. Spinnweben verunzierten die Tierköpfe, im Holzgeländer der Treppe fehlten Sprossen. Alles wirkte leicht heruntergekommen, was dem Haus eine Art morbiden Charme verlieh, als sei die Zeit vor sechzig Jahren stehengeblieben.
    Plötzlich öffnete sich die Tür, hinter der Moormann verschwunden war, und ein Mann von etwa vierzig Jahren in Anzug und Krawatte verließ den Raum. Er sah alles andere als gut gelaunt aus, nickte Pia und Bodenstein aber höflich zu, bevor er durch die Haustür verschwand. Es dauerte noch etwa drei Minuten, dann kamen zwei weitere Männer heraus,von denen Pia einen sofort erkannte. Dr. Manuel Rosenblatt war ein bekannter Frankfurter Anwalt, der besonders gerne von großen Wirtschaftsbossen engagiert wurde, wenn sie in Bedrängnis geraten waren. Moormann erschien in der geöffneten Tür. Bodenstein erhob sich.
    »Frau Dr. Kaltensee lässt bitten«, sagte er.
    »Danke«, antwortete Pia und betrat hinter ihrem Chef einen großen Raum, dessen bedrückend wirkende dunkle Holztäfelung etwa fünf Meter hoch bis zur stuckverzierten Decke reichte. Am hinteren Ende befand sich ein Marmorkamin, groß wie ein Garagentor, in der Mitte stand ein wuchtiger Tisch, aus demselben dunklen Holz wie die Wandverkleidung, mit zehn unbequem aussehenden Stühlen. Vera Kaltensee saß aufrecht am Kopfende des Tisches, der mit Papierstößen und aufgeschlagenen Aktenordnern bedeckt war. Obwohl blass und sichtlich angeschlagen, wahrte sie Haltung.
    »Frau Kirchhoff! Lieber Herr Bodenstein! Was kann ich für Sie tun?«
    Bodenstein gab sich höflich und wohlerzogen, ganz alter Adel. Es fehlte nur noch der Handkuss.
    »Herr Moormann sagte eben, es hätte gestern einen Einbruchsversuch

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