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Tiefe Wunden

Titel: Tiefe Wunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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gegeben.« Seine Stimme klang besorgt. »Wie so haben Sie mich nicht angerufen, Frau Dr. Kaltensee?«
    »Ach Gott, ich wollte Sie nicht mit einer solchen Lappalie belästigen.« Vera Kaltensee schüttelte leicht den Kopf. Ihre Stimme klang unsicher. »Sie haben gewiss genug zu tun.«
    »Was ist denn passiert?«
    »Nicht der Rede wert. Mein Sohn hat mir einige Leute vom Werkschutz geschickt.« Sie lächelte zittrig. »Jetzt fühle ich mich etwas sicherer.«
    Ein untersetzter, etwa sechzigjähriger Mann betrat den Raum. Vera Kaltensee stellte ihn als ihren zweitältesten Sohn Siegbert, den Geschäftsführer der KMF, vor. Siegbert Kaltenseemit seinem rosa Schweinchengesicht, Hängebacken und Glatze wirkte freundlich und umgänglich im Vergleich zu seinem aristokratisch-hageren Bruder Elard. Mit einem Lächeln reichte er erst Pia, dann Bodenstein die Hand, bevor er sich hinter den Stuhl seiner Mutter stellte. Sein grauer Anzug und das schneeweiße Hemd mit der dezent gemusterten Krawatte saßen so perfekt, wie nur Maßanfertigung sitzen konnte. Siegbert Kaltensee schien großen Wert auf Understatement zu legen, in seinem Auftreten wie in seiner Kleidung.
    »Wir wollen Sie nicht lange stören«, sagte Bodenstein. »Aber wir sind auf der Suche nach Robert Watkowiak. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass er an beiden Tatorten gewesen ist.«
    »Robert?« Vera Kaltensee riss bestürzt die Augen auf. »Sie denken doch nicht, dass er etwas ... damit zu tun hat?«
    »Nun ja«, räumte Bodenstein ein. »Es ist eine erste Spur. Wir würden uns gerne mit ihm unterhalten. Gestern waren wir in der Wohnung, in der er zurzeit lebt, und da ist er vor meinen Kollegen geflüchtet.«
    »Er ist immer noch hier, auf dem Mühlenhof, polizeilich gemeldet«, fügte Pia hinzu.
    »Ich wollte ihm nicht auch noch die letzte Tür vor der Nase zuschlagen«, sagte Vera Kaltensee. »Der Junge hat mir Sorgen gemacht, seit er das erste Mal dieses Haus betreten hat.«
    Bodenstein nickte. »Ich kenne sein Vorstrafenregister.« Siegbert Kaltensee sagte nichts. Sein Blick wanderte aufmerksam zwischen Bodenstein und Pia hin und her.
    »Wissen Sie«, Vera Kaltensee seufzte tief, »Eugen, mein verstorbener Mann, hat mir lange Jahre Roberts Existenz verschwiegen. Der arme Junge wuchs bei seiner Mutter in ärmlichsten Verhältnissen auf, bis sie sich zu Tode getrunken hatte. Er war schon zwölf, als Eugen mit der Wahrheit über seinen unehelichen Sohn herausrückte. Nachdem ich denSchock über seine Untreue überwunden hatte, habe ich dar auf bestanden, dass Robert bei uns aufwächst. Er konnte ja nichts dafür. Aber ich fürchte, es war für ihn zu spät.«
    Siegbert Kaltensee legte eine Hand auf die Schulter seiner Mutter, und sie griff nach ihr. Eine Geste voller Vertrautheit und Zuneigung.
    »Robert war schon als Kind verstockt«, fuhr sie fort. »Mir ist es nie gelungen, an ihn heranzukommen, obwohl ich wirklich alles versucht habe. Als er vierzehn war, wurde er das erste Mal beim Ladendiebstahl erwischt. Und damit begann seine unrühmliche Karriere.«
    Vera Kaltensee blickte mit kummervoller Miene auf.
    »Meine Kinder behaupten, ich hätte ihn zu sehr beschützt, und es hätte ihn vielleicht aufgerüttelt, wenn er früher im Gefängnis gelandet wäre. Aber mir tat der Junge in der Seele leid.«
    »Halten Sie ihn für fähig, einen Menschen zu töten?«, fragte Pia.
    Vera Kaltensee überlegte einen Augenblick, während ihr Sohn sich noch immer in höflicher Zurückhaltung übte und schwieg.
    »Ich wollte, ich könnte aus voller Überzeugung nein sagen«, erwiderte sie schließlich. »Robert hat uns unendlich oft enttäuscht. Ungefähr vor zwei Jahren war er zum letzten Mal hier. Er wollte Geld, wie üblich. Da hat Siegbert ihn schließlich vor die Tür gesetzt.«
    Pia sah, dass Vera Kaltensee Tränen in die Augen stiegen, aber sie war gewappnet und betrachtete die alte Dame mit nüchternem Interesse.
    »Robert hat von uns wirklich jede Chance bekommen und nie genutzt«, sagte nun Siegbert Kaltensee. Seine hohe Stimme stand in eigenartigem Gegensatz zu seiner kräftigen Erscheinung. »Er hat Mutter immer wieder um Geld angebettelt,außerdem hat er geklaut wie ein Rabe. Mutter war zu gutmütig, um ihn in die Schranken zu weisen, aber mir wurde das irgendwann zu bunt. Ich habe ihm mit einer Anzeige wegen Hausfriedensbruchs gedroht, sollte er jemals wieder den Fuß über diese Türschwelle setzen.«
    »Kannte er Herrn Goldberg und Herrn Schneider?«, wollte Pia

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