Tiefe Wunden
wissen.
»Natürlich.« Siegbert Kaltensee nickte. »Er kannte sie beide gut.«
»Halten Sie es für möglich, dass er sie um Geld gebeten hat?«
Vera Kaltensee verzog die Miene, als sei ihr dieser Gedanke höchst unangenehm.
»Ich weiß, dass er die beiden in der Vergangenheit regelmäßig angepumpt hat.« Siegbert Kaltensee lachte, ein kurzes Schnauben ohne Heiterkeit. »Er hat wirklich keine Hemmungen. «
»Ach, Siegbert, du bist ungerecht.« Vera Kaltensee schüttelte den Kopf. »Ich mache mir schwere Vorwürfe, weil ich auf dich gehört habe. Ich hätte die Verantwortung übernehmen und Robert in meiner Reichweite behalten sollen. Dann wäre er nicht auf all diese dummen Gedanken gekommen.«
»Darüber haben wir doch schon tausendmal gesprochen, Mutter«, entgegnete Siegbert Kaltensee geduldig. »Robert ist vierundvierzig Jahre alt. Wie lange hättest du ihn denn vor sich selbst beschützen können? Er wollte doch deine Hilfe überhaupt nicht, nur dein Geld.«
»Auf welche dummen Gedanken ist Robert denn gekommen?«, fragte Bodenstein nach, bevor Siegbert Kaltensee und seine Mutter die Diskussion, die sie wohl schon häufig geführt hatten, vertiefen konnten.
Vera Kaltensee lächelte steif.
»Sie kennen doch seine Akte«, sagte sie. »Dabei ist Robertvon seiner Veranlagung her nicht bösartig. Er ist einfach zu vertrauensselig und gerät immer an die falschen Leute.«
Pia beobachtete, wie Siegbert Kaltensee bei diesen Worten in stummer Resignation die Augenbrauen hob. Er dachte wohl dasselbe wie sie. Genau diesen Satz hörte sie immer wieder von Angehörigen. Immer waren andere daran schuld, wenn ein Sohn, eine Tochter, ein Ehemann oder Partner kriminell wurde. Es war so leicht, die Verantwortung auf schlechten Einfluss abzuschieben, um das eigene Versagen zu rechtfertigen. Vera Kaltensee machte da keine Ausnahme. Bodenstein bat sie, ihn anzurufen, sollte Robert Watkowiak sich bei ihr melden.
Robert Watkowiak marschierte schlecht gelaunt den asphaltierten Fußweg von Kelkheim nach Fischbach entlang. Er schimpfte leise vor sich hin und bedachte Herrmann Schneider mit allen Flüchen, die er kannte. Am meisten ärgerte es ihn, dass er sich von dem alten Mistkerl hatte austricksen lassen. Die Schecks seien doch so gut wie Bargeld, hatte er gesagt und ihm bedauernd sein leeres Portemonnaie präsentiert. Von wegen! Diese Spießer auf der Bank hatten ein Riesengeschiss gemacht und herumtelefoniert, wahrscheinlich mit den Bullen. Da hatte er lieber die Flucht ergriffen. Aber jetzt hatte er weder ein Handy noch genug Kohle für den Bus und musste zu Fuß latschen! Vor anderthalb Stunden war er einfach losgelaufen, ohne zu überlegen, wohin eigentlich. Der Schreck heute Morgen, als die Bullen bei Moni aufgetaucht waren, hatte ihn ernüchtert, und der Fußmarsch an der frischen Luft brachte ihm Klarheit über seine Lage: Er war am Ende. Er hatte Hunger, Durst und kein Dach über dem Kopf. Bei Kurti brauchte er nicht aufzutauchen, seine Oma hatte ihn schon mehrfach beschimpft und rausgeschmissen, und andere Freunde gab es nicht mehr. Die einzige Möglichkeit,die er noch hatte, war Vera. Er musste eine Gelegenheit abpassen, mit ihr alleine zu sprechen. Wie man ungesehen auf den Mühlenhof gelangte, wusste er, und er kannte jeden Zentimeter des Hauses. Wenn er ihr erst gegenüberstand, würde er ihr ganz sachlich darlegen, wie es um ihn bestellt war. Vielleicht gab sie ihm ja freiwillig etwas. Wenn nicht, dann würde er die Pistole ziehen und sie ihr an den Kopf halten. Aber so weit würde es nicht kommen. Eigentlich war es ja nicht Vera, die ihm Hausverbot erteilt hatte, sondern Siegbert, dieses überhebliche, dicke Schwein. Der hatte ihn noch nie leiden können, erst recht nicht nach dem Unfall damals, an dem man ihm allein die Schuld gegeben hatte. Dabei war es Marleen gewesen, die am Steuer gesessen hatte, aber das wollte ihm niemand glauben, schließlich war sie erst vierzehn gewesen und so ein liebes, artiges Mädchen! Sie hatte die Idee zu der Spritztour mit Onkel Elards Porsche gehabt, heimlich den Schlüssel entwendet und war losgefahren. Er war nur eingestiegen, um sie von dieser Dummheit abzuhalten. Aber natürlich war die Familie wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass er gefahren war, um dem Mädchen zu imponieren! Robert Watkowiak trottete an der Aral-Tankstelle vorbei und überquerte die Straße. Wenn er sich ranhielt, konnte er in einer Stunde am Mühlenhof sein. Plötzlich riss ihn
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