Tiefe Wunden
gespielt und eine Weile auf Make-up verzichtet hatte. Der Blick in den Spiegel war jedes Mal ein Schock gewesen. Ein Schock, den sie sich gerne ersparte, zumal sie nicht mehr von einem mickrigen Angestelltensalär leben musste. Kurz nach ihrem vierzigsten Geburtstag vor ein paar Jahren hatte sie damit begonnen, dem Alter entgegenzuwirken. Mit Stunden im Fitnesszentrum, Lymphdrainagen und Darmreinigungen hatte es angefangen, mittlerweile waren vierteljährliche Botoxbehandlungen und sündhaft teure Faltenunterspritzungen mit Kollagen und Hyaluronsäure dazugekommen. Aber es lohnte sich. Verglichen mit gleichaltrigen Frauen sah sie zehn Jahre jünger aus. Katharina lächelte ihrem Spiegelbild zu. In Königstein lebten viele wohlhabende Leute, die diskreten Privatkliniken, die sich auf jede Art des Anti-Aging eingestellt hatten, schossen wie Pilze aus dem Boden.
Aber deshalb war sie nicht in den kleinen Taunusort zurückgekehrt. Der Grund ihrer Rückkehr war weitaus pragmatischer. Sie wollte nicht in Frankfurt wohnen, brauchte aber ein Haus in der Nähe des Flughafens, weil sie viel Zeit in Zürich oder in ihrer Finca auf Mallorca verbrachte. Der Kauf des großen Hauses mitten in der Königsteiner Altstadt,nur ein paar hundert Meter entfernt von der Hütte, in der sie als arme Gastwirtstochter aufgewachsen war, war für sie ein Triumph gewesen. Hier hatte der Mann gewohnt, der ihren Vater damals in den Bankrott getrieben hatte. Nun war er selbst pleite, und Katharina hatte sein Haus für einen Spottpreis erstanden. Sie lächelte. Man sieht sich immer zweimal im Leben, dachte sie.
Ein prickelnder Schauer lief ihr über den Rücken, als sie an den Tag dachte, an dem Thomas Ritter ihr von seinem Vorhaben erzählt hatte, eine Biographie über Vera Kaltensee zu schreiben. In hoffnungsloser Selbstüberschätzung hatte er angenommen, Vera würde von seiner Idee begeistert sein, aber das Gegenteil war der Fall gewesen. Vera hatte nicht lange gefackelt und ihn nach achtzehn Jahren fristlos entlassen. Bei einer zufälligen Begegnung hatte sich Ritter selbstmitleidig über diese Ungerechtigkeit beklagt, und da hatte Katharina ihre Gelegenheit, sich an Vera und der ganzen Kaltensee-Sippe zu rächen, erkannt. Gierig hatte sich Ritter auf das Angebot gestürzt, das Katharina ihm gemacht hatte.
Nun, anderthalb Jahre später, hatte Ritter zwar einen Vorschuss in fünfstelliger Höhe erhalten, aber bisher nichts Bestseller-Verdächtiges zu Papier gebracht. Obwohl Katharina gelegentlich mit ihm ins Bett ging, ließ sie sich keinesfalls von seinen großen Sprüchen und Versprechungen blenden. Nach einer nüchternen Analyse dessen, was Ritter bisher abgeliefert hatte, wusste sie, dass sein Geschreibsel meilenweit von dem skandalösen Enthüllungsbericht entfernt war, den er ihr vor Monaten vollmundig versprochen hatte. Es war an der Zeit gewesen einzugreifen.
Sie war nach wie vor gut informiert, was die Familie Kaltensee betraf, denn sie hielt den freundschaftlichen Kontakt zu Jutta aufrecht, als ob nie etwas gewesen sei, und Jutta in ihrer Eitelkeit zweifelte nicht an Katharinas Aufrichtigkeit.Durch Ritter wusste Katharina um die Umstände, die zu seiner fristlosen Kündigung geführt hatten. Ein höchst aufschlussreiches Gespräch mit Veras nicht sonderlich loyaler Haushälterin hatte sie schließlich darauf gebracht, Elard zu kontaktieren. Zwar wusste sie nicht mit Sicherheit, wie hilfreich Juttas ältester Bruder sein würde, aber er war zumindest bei dem Eklat im Sommer vorigen Jahres dabei gewesen. Während Katharina noch darüber nachdachte, summte ihr Handy.
»Hallo, Elard«, sagte sie. »Das war wohl Gedankenübertragung.«
Elard Kaltensee sparte sich diesmal die Umständlichkeiten und kam sofort zur Sache.
»Wie hast du dir die Übergabe vorgestellt?«, fragte er.
»Aus deinen Worten schließe ich, dass du etwas für mich hast«, erwiderte Katharina. Sie war neugierig, was Elard herausrückte.
»Jede Menge«, sagte Elard. »Ich will das Zeug loswerden. Also?«
»Treffen wir uns bei mir«, schlug Katharina vor.
»Nein. Ich schicke dir die Sachen. Morgen Mittag.«
»Einverstanden. Wo?«
»Das sage ich dir noch. Auf Wiedersehen.«
Und schon hatte er aufgelegt. Katharina lächelte zufrieden. Alles lief wie am Schnürchen.
Bodenstein knöpfte sein Jackett zu und klopfte an die Bürotür seines Chefs, bevor er eintrat. Überrascht sah er, dass Nierhoff rothaarigen Damenbesuch hatte, und wollte sich schon wieder
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