Tiefe Wunden
ringelte sich unter ihren Fingern auf und weigerte sich beharrlich, ihr Geheimnis preiszugeben. Pia spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Geduld war noch nie ihre Stärke gewesen, und nach einer Weile musste sie einsehen, dass es keinen Sinn hatte, was sie da tat. Sie kratzte sich nachdenklich am Kopf und überlegte, wie sie sich die Arbeit erleichtern konnte. Ihr Blick fiel auf ihre vier Hunde, dann auf die Uhr. Besser, sie kümmerte sich zuerst um die Tiere, bevor sie einen Wutanfall bekam und den ganzen Papierberg in den Mülleimer stopfte. Eigentlich hatte sie heute Abend das Durcheinander vonschmutzigen Schuhen, Jacken, Eimern und Pferdehalftern im Windfang aufräumen wollen, aber das musste warten.
Pia marschierte zum Stall, mistete die Boxen aus und streute frisches Stroh ein. Dann holte sie die Pferde von der Koppel herein. In Kürze war es Zeit, Heu zu machen, wenn das Wetter ihr keinen Strich durch die Rechnung machte. Auch hätten längst wieder einmal die Grünstreifen links und rechts von der Auffahrt gemäht werden müssen. Als sie die Tür zur Futterkammer öffnete, waren wie aus dem Nichts die beiden Katzen zur Stelle, die vor ein paar Monaten beschlossen hatten, ab sofort auf dem Birkenhof zu leben. Der schwarze Kater sprang auf das Regal über der Arbeitsfläche, auf der Pia das Futter zusammenmischte. Bevor sie es verhindern konnte, hatte er eine Reihe von Flaschen und Dosen heruntergefegt und brachte sich mit einem Satz in Deckung.
»Du bist echt ein Trottel!«, rief Pia dem Kater nach. Sie bückte sich, und als sie die Sprühflasche mit Schweifspray aufhob, hatte sie einen Einfall. Rasch fütterte sie Hunde, Katzen, Federvieh und Pferde und lief dann zurück ins Haus. Sie leerte den Rest des Schweifsprays ins Spülbecken und füllte die Flasche mit klarem Wasser. Dann legte sie die Papierstreifen auf ein Küchenhandtuch, kämmte sie mit den Fingern durch und sprühte sie mit Wasser ein. Zum Schluss deckte sie ein weiteres Handtuch darüber. Vielleicht war ihre Mühe umsonst, vielleicht aber auch nicht. Die Geheimnistuerei der Vorzimmerdame hatte auf jeden Fall ihr Misstrauen geweckt. Ob sie wohl bemerkt hatte, dass man ihr den Reißwolf ausgeräumt hatte? Pia kicherte bei dem Gedanken daran und machte sich auf die Suche nach dem Dampfbügeleisen.
Früher, bei Henning, hatte jedes Gerät seinen festen Platz gehabt, die Schränke waren immer akkurat aufgeräumt gewesen. Auf dem Birkenhof herrschte das Zufallsprinzip. Einige Umzugskisten hatte Pia auch nach über zwei Jahrennoch nicht ausgeräumt. Irgendwie kam immer etwas dazwischen. Schließlich fand sie das Bügeleisen im Schlafzimmerschrank und machte sich daran, die feuchten Papierstreifen glatt zu bügeln. Zwischendurch verzehrte sie eine Gemüselasagne aus der Mikrowelle und einen Fertigsalat, beides zwar nur die Illusion einer vitaminreichen, gesunden Ernährung, aber immer noch besser als ein Döner oder Fastfood. Das Zusammensetzen der Streifen forderte Pia alles an Geduld und Feinmotorik ab, was sie besaß, sie fluchte immer wieder über ihre Ungeschicklichkeit und zittrigen Finger, aber schließlich hatte sie es geschafft.
»Danke, du fette schwarze Katze«, murmelte sie und grinste. Das Blatt enthielt sensible Krankendaten von Anita Maria Frings geborene Willumat. Dazu ihre letzte Adresse in Potsdam, vor Einzug in den Taunusblick . Zunächst konnte Pia nicht recht nachvollziehen, weshalb die Sekretärin ihnen das Blatt nicht einfach ausgehändigt hatte, doch dann sprang ihr ein Name ins Auge. Sie warf einen Blick auf die Küchenuhr. Kurz nach neun. Noch nicht zu spät, um Bodenstein anzurufen.
Bodensteins stumm geschaltetes Handy vibrierte in der Innentasche seines Jacketts. Er zog es hervor und erkannte den Namen seiner Kollegin im Display. Elard Kaltensee saß noch immer stumm da, das leere Cognacglas in der Hand und starrte vor sich hin.
»Ja?«, meldete sich Bodenstein mit gedämpfter Stimme. »Chef, ich habe etwas herausgefunden.« Pia Kirchhoff klang aufgeregt. »Waren Sie schon bei Vera Kaltensee?«
»Ich bin gerade dort.«
»Fragen Sie sie, woher sie von Anita Frings’ Tod weiß und wann sie es erfahren hat. Ich bin gespannt, was sie Ihnen antwortet. Vera Kaltensee ist nämlich im Computer vomTaunusblick als die Person eingetragen, die bei einem Notfall benachrichtigt werden soll. Sie war Anita Frings’ Vormund und hat das Heim auch bezahlt. Erinnern Sie sich, wie die Hausdame sich darüber gewundert hat, dass
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