Tiefe Wunden
man uns noch nicht informiert hatte? Bestimmt hat die Direktorin erst Vera Kaltensee angerufen, um sich Instruktionen geben zu lassen.«
Bodenstein lauschte angespannt und fragte sich, woher seine Kollegin das plötzlich alles wusste.
»Vielleicht durfte sie uns nicht eher informieren, weil die Kaltensees erst sicherheitshalber die Wohnung von Frau Frings ausräumen lassen wollten!«
Ein Auto rollte an den Fenstern vorbei, dann ein zweites. Reifen knirschten auf dem Kies.
»Ich muss Schluss machen«, unterbrach Bodenstein den Redefluss seiner Kollegin. »Ich melde mich gleich noch mal.«
Sekunden später öffnete sich die Tür zum Salon, und eine große, dunkelhaarige Frau kam herein, gefolgt von Siegbert Kaltensee. Elard Kaltensee blieb im Sessel sitzen, blickte nicht einmal auf.
»Guten Abend, Herr Hauptkommissar.« Siegbert Kaltensee reichte Bodenstein mit einem sparsamen Lächeln die Hand. »Darf ich vorstellen: meine Schwester Jutta.«
Sie wirkte in natura ganz anders als die toughe Politikerin, die Bodenstein bisher nur aus dem Fernsehen gekannt hatte: weiblicher, hübscher, ja, unerwartet attraktiv. Obwohl sie nicht unbedingt seinem Frauentyp entsprach, fühlte er sich auf den ersten Blick von ihr angezogen. Bevor sie ihm überhaupt die Hand geben konnte, hatte Bodenstein sie schon mit den Augen ausgezogen und sie sich nackt vorgestellt. Seine unanständigen Gedanken waren ihm peinlich, er errötete beinahe unter ihrem forschenden Blick aus blauen Augen,mit dem sie ihn ihrerseits taxierte. Was sie sah, schien ihr zu gefallen.
»Meine Mutter hat viel von Ihnen erzählt. Ich freue mich, Sie endlich persönlich kennenzulernen.« Sie lächelte mit angemessenem Ernst, ergriff Bodensteins Hand und hielt sie einen Moment länger fest als nötig. »Auch wenn die Umstände traurig sind.«
»Eigentlich wollte ich nur kurz mit Ihrer Frau Mutter sprechen. « Bodenstein bemühte sich, den innerlichen Aufruhr, den ihr Anblick in ihm ausgelöst hatte, niederzukämpfen. »Aber Ihr Bruder sagte mir, dass sie unpässlich ist.«
»Anita war Mamas älteste Freundin.« Jutta Kaltensee ließ seine Hand los und stieß einen bekümmerten Seufzer aus. »Die Ereignisse der letzten Tage haben sie furchtbar mitgenommen. Ich mache mir allmählich ernsthafte Sorgen. Mama ist nicht mehr so robust, wie sie sich gibt. Wer tut so etwas nur?«
»Um das herauszufinden, brauche ich Ihre Hilfe«, sagte Bodenstein. »Hätten Sie einen Augenblick Zeit, mir ein paar Fragen zu beantworten?«
»Selbstverständlich«, sagten Siegbert und Jutta Kaltensee wie aus einem Mund. Ganz unvermittelt erwachte ihr Bruder Elard aus dem Zustand dumpfen Brütens. Er erhob sich, stellte das leere Glas auf ein Beistelltischchen und richtete den blutunterlaufenen Blick auf seine Geschwister, die er beide um Haupteslänge überragte.
»Habt ihr gewusst, dass Goldberg und Schneider bei der SS waren?«
Siegbert Kaltensee reagierte nur mit einem kurzen Hoch ziehen der Augenbrauen, aber auf dem Gesicht seiner Schwester glaubte Bodenstein einen Ausdruck des Erschreckens zu sehen.
»Onkel Jossi ein Nazi? Unsinn!« Sie lachte ungläubig undschüttelte den Kopf. »Was redest du denn da, Elard? Bist du etwa betrunken?«
»Ich war seit Jahren nicht nüchterner.« Kaltensee starrte erst seine Schwester, dann seinen Bruder hasserfüllt an. »Deshalb merke ich es vielleicht auch so deutlich. Diese verlogene Familie kann man nur im Suff ertragen!«
Das Verhalten ihres ältesten Bruders war Jutta sichtlich peinlich, sie warf Bodenstein einen verlegenen Blick zu und lächelte entschuldigend.
»Sie hatten Blutgruppentätowierungen, wie sie bei der SS üblich waren«, fuhr Elard Kaltensee mit düsterer Miene fort. »Und je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich, dass es die Wahrheit ist. Gerade Goldberg, der ...«
»Ist das wahr?«, unterbrach Jutta ihren Bruder und sah Bodenstein an.
»Ja, das stimmt«, bestätigte er nickend. »Bei der Obduktion wurden die Tätowierungen festgestellt.«
»Das gibt’s doch nicht!« Sie wandte sich an ihren Bruder Siegbert, ergriff dessen Hand, als ob sie bei ihm Schutz suchte. »Ich meine, bei Herrmann würde es mich nicht wundern, aber doch nicht Onkel Jossi!«
Elard Kaltensee öffnete den Mund zu einer Entgegnung, aber sein Bruder kam ihm zuvor.
»Haben Sie eigentlich Robert ausfindig gemacht?«, fragte Siegbert.
»Nein, wir haben ihn bisher noch nicht gefunden.« Einer unbestimmten Intuition folgend verschwieg
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