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Tiefe Wunden

Titel: Tiefe Wunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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etwas von mir wissen«, sagte er förmlich. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
    »Es geht um Herrmann Schneider.« Pia öffnete ihre Tasche und holte ihren Notizblock heraus. »Wir sichten gerade seinen Nachlass und sind dabei auf Ungereimtheiten gestoßen. Nicht nur Goldberg, sondern auch er scheint nach dem Krieg eine falsche Identität angenommen zu haben. Schneider stammte in Wirklichkeit nicht aus Wuppertal, sondern aus Steinort in Ostpreußen.«
    »Aha. « Falls Kaltensee überrascht war, ließ er es sich nicht anmerken.
    »Als Ihre Mutter uns erzählte, dass Schneider ein Freund ihres verstorbenen Mannes gewesen sei, reagierten Sie mit den Worten ›Dann stimmt das wohl‹. Ich hatte aber das Gefühl, dass Sie etwas anderes sagen wollten.«
    Elard Kaltensee hob die Augenbrauen.
    »Sie sind eine genaue Beobachterin.«
    »Eine Grundvoraussetzung für meinen Job«, bestätigte Pia.
    Kaltensee trank einen weiteren Schluck seiner Cola. »In meiner Familie gibt es viele Geheimnisse«, sagte er ausweichend. »Meine Mutter behält so einiges für sich. Zum Beispiel verschweigt sie mir bis heute den Namen meines leiblichen Vaters und, wie ich manchmal argwöhne, mein wirkliches Geburtsdatum.«
    »Wieso sollte sie das tun, und wie kommen Sie darauf?« Pia war erstaunt.
    Kaltensee beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf seine Knie.
    »Ich kann mich an Dinge, Orte und Menschen erinnern, an die ich mich eigentlich nicht erinnern dürfte. Und das nicht etwa, weil ich übersinnliche Fähigkeiten besitze, sondern weil ich älter als sechzehn Monate gewesen sein muss, als wir Ostpreußen verließen.«
    Er rieb sich nachdenklich die unrasierte Wange und starrtevor sich hin. Pia schwieg und wartete darauf, dass er weiter sprach.
    »Fünfzig Jahre lang habe ich nicht sehr viel über meine Herkunft nachgedacht«, sagte er nach einer Weile. »Ich hatte mich damit abgefunden, dass ich keinen Vater hatte und keine Heimat. Vielen Menschen meiner Generation ist es so ergangen. Väter sind im Krieg geblieben, Familien wurden zerrissen und mussten flüchten. Mein Schicksal war nicht einzigartig. Aber dann bekam ich eines Tages eine Einladung von unserer Partneruniversität in Krakau, zu einem Seminar. Ich dachte mir nichts dabei und fuhr hin. An einem Wochenende machte ich mit einigen Kollegen einen Ausflug nach Olszytn, dem früheren Allenstein, um dort die gerade neu eröffnete Universität zu besichtigen. Bis dahin hatte ich mich wie ein einfacher Tourist in Polen gefühlt, aber ganz plötzlich ... ganz plötzlich hatte ich das sichere Gefühl, diese Eisenbahnbrücke und die Kirche schon einmal gesehen zu haben. Ich konnte mich sogar daran erinnern, dass es im Winter gewesen sein muss. Kurz entschlossen habe ich mir ein Auto geliehen und bin von Olszytn aus Richtung Osten gefahren. Es war ...«
    Er brach ab, schüttelte den Kopf und holte tief Luft. »Hätte ich es nur gelassen!«
    »Warum?«
    Elard Kaltensee stand auf und trat ans Fenster. Als er weitersprach, klang seine Stimme bitter.
    »Bis zu diesem Zeitpunkt war ich ein einigermaßen zufriedener Mann mit zwei anständigen Kindern, gelegentlichen Affären und einem Beruf, der mich ausfüllte. Ich glaubte zu wissen, wer ich war und wo ich hingehörte. Aber seit dieser Reise hat sich alles verändert. Seitdem habe ich das Gefühl, in wichtigen Bereichen meines Lebens völlig im Dunkeln zu tappen. Trotzdem habe ich mich nie getraut, ernsthaft zu suchen.Heute glaube ich, ich hatte einfach Angst davor, Dinge zu erfahren, die noch mehr zerstören würden.«
    »Was denn zum Beispiel?«, fragte Pia. Kaltensee wandte sich zu ihr um, und der Ausdruck unverhüllter Seelenqual auf seinem Gesicht traf sie unvorbereitet. Er war labiler, als es nach außen sichtbar war.
    »Ich gehe mal davon aus, dass Sie Ihre Eltern und Großeltern kennen«, sagte er. »Sie haben sicher schon oft den Satz gehört ›Das kann sie nur von ihrem Vater haben, oder von ihrer Mutter oder von Oma oder Opa‹. Habe ich recht?«
    Pia nickte, verblüfft über diese plötzliche Vertraulichkeit.
    » Ich habe das nie gehört. Warum nicht? Meine erste Annahme war, dass meine Mutter vielleicht vergewaltigt wurde, wie viele Frauen damals. Aber das wäre kein Grund gewesen, mir nichts über meine Herkunft zu erzählen. Dann kam mir ein weitaus schlimmerer Verdacht. Vielleicht war mein Erzeuger ein Nazi, der irgendwelche entsetzlichen Gräueltaten auf dem Gewissen hat. War meine Mutter vielleicht mit einem Kerl in schwarzer

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