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Tiefe Wunden

Titel: Tiefe Wunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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und förderte die Eugen-Kaltensee-Stiftung, der übrigens die Immobilie auch gehörte, junge und talentierte Musiker und Schauspieler. In einem der oberen Stockwerke gab es sogar einen eigenen Konzertsaal und Wohn- und Arbeitsräume,die Künstlern aus dem In- und Ausland für einen gewissen Zeitraum zur Verfügung gestellt wurden. Zog man den Ruf von Professor Kaltensee in Betracht, handelte es sich dabei wohl vornehmlich um junge Künstler innen , die dem Direktor des Frankfurter Kunsthauses in physischer Hinsicht gefielen. In dem Augenblick, in dem sie das dachte, sah sie Elard Kaltensee die Treppe herunterkommen. Neulich auf dem Mühlenhof hatte der Mann keinen besonderen Eindruck auf sie gemacht, aber heute wirkte er völlig verändert. Er war von Kopf bis Fuß in schlichtes Schwarz gekleidet wie ein Priester oder Magier, eine düstere eindrucksvolle Gestalt, vor der sich die Menge respektvoll teilte.
    »Hallo, Frau Kirchhoff.« Er blieb vor ihr stehen und reichte ihr die Hand, ohne zu lächeln. »Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie habe warten lassen.«
    »Das macht nichts. Danke, dass Sie so kurzfristig für mich Zeit gefunden haben«, erwiderte Pia. Aus der Nähe betrachtet sah Elard Kaltensee auch heute erschöpft aus. Unter seinen geröteten Augen lagen dunkle Schatten, der Dreitagebart bedeckte eingefallene Wangen. Pia hatte den Eindruck, dass er sich für eine Rolle verkleidet hatte, die ihm nicht mehr behagte.
    »Kommen Sie«, sagte er, »gehen wir hoch in meine Wohnung. «
    Sie folgte ihm neugierig die knarrenden Treppen hinauf bis in den vierten Stock. Über diese Wohnung im Dachgeschoss des Hauses kursierten seit Jahren in der Frankfurter Gesellschaft die wildesten Gerüchte. Angeblich hatten hier ausschweifende Partys stattgefunden, man munkelte hinter vorgehaltener Hand von orgiastischen Sauf- und Koksgelagen mit prominenten Gästen aus der Kunst- und Politikszene der Stadt. Kaltensee öffnete eine Tür und ließ Pia höflich den Vortritt. In dem Moment klingelte sein Handy.
    »Entschuldigen Sie mich.« Er blieb im Treppenhaus zurück. »Ich komme sofort.«
    In der Wohnung herrschte dämmeriges Zwielicht. Pia sah sich in dem großen Raum mit offenen Deckenbalken und abgetretenem Dielenboden um. Vor den bis zum Boden reichenden Fenstern stand ein überladener Schreibtisch aus dunklem Mahagoniholz, auf jeder verfügbaren Fläche stapelten sich Bücher und Kataloge. In einer Ecke gähnte ein offener Kamin mit rußigem Schlund, davor gruppierte sich eine lederne Couchgarnitur um einen niedrigen hölzernen Couchtisch. Die Wände wirkten wie frisch gestrichen, sie waren grellweiß und leer, bis auf zwei überdimensionale gerahmte Fotos, von denen eines die ziemlich appetitliche Rückansicht eines nackten Mannes zeigte, das andere eine Augen- und eine Mundpartie, Nase und Kinn waren von gespreizten Fingern verdeckt.
    Pia schlenderte weiter durch die Wohnung. Der narbige Eichenholzfußboden knarrte unter ihren Schritten. Eine Küche, von der aus eine Glastür auf einen Dachbalkon führte. Das Badezimmer, ganz in weiß gehalten, auf den Fliesen noch feuchte Fußabdrücke. Ein benutztes Handtuch neben der Dusche, eine achtlos fallen gelassene Jeans, der Duft von Rasierwasser. Pia fragte sich, ob sie Elard Kaltensee vielleicht bei einem Schäferstündchen mit einer seiner Künstlerinnen gestört hatte, denn die Jeans passte als Kleidungsstück nicht zu ihm.
    Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen und warf einen neugierigen Blick in den angrenzenden Raum, der nur durch einen schweren Samtvorhang abgeteilt war. Sie sah ein breites zerwühltes Bett, eine Kleiderstange, an der ausschließlich schwarze Kleidungsstücke hingen. Eine vergoldete Buddha-Figur diente als Fuß für einen Glastisch, auf dem in einem silbernen Sektkühler ein Strauß halb vertrockneter Rosen stand; ihr Duft hing schwer und süß in der Luft. Aufdem Boden neben dem Bett standen ein altertümlicher Überseekoffer und ein wuchtiger, mehrarmiger Kerzenleuchter aus Bronze. Die Kerzen waren heruntergebrannt und hatten ein skurriles Gebilde aus Wachs auf dem Holz des Fußbodens hinterlassen. Nicht gerade die Liebeshöhle, die Pia erwartet hatte. Ihr Adrenalinspiegel schoss unwillkürlich in die Höhe, als ihr Blick auf dem Nachttisch eine Pistole streifte. Mit angehaltenem Atem wagte sie sich einen Schritt näher und beugte sich über das Bett. Gerade als sie nach der Pistole greifen wollte, nahm sie eine Bewegung direkt hinter sich wahr.

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