Tiefe Wunden
die Unauffälligkeit in Person.«
»Nicht zu fassen.« Pia machte sich Notizen. »Dann suchen wir nach einem Hans Kallweit aus Steinort in Ostpreußen. Steinort liegt ganz in der Nähe von Angerburg, woher der echte Goldberg stammte. Und wenn deine Theorie stimmt, dann könnte der falsche Goldberg – Oskar – tatsächlich jemand gewesen sein, der den echten von früher kannte.«
»Genau.« Ostermann warf einen begehrlichen Blick auf Pias inzwischen kalten Döner auf dem Schreibtisch. »Isst du den noch?«
»Nein.« Pia schüttelte abwesend den Kopf. »Greif zu.«
Das ließ Ostermann sich nicht zweimal sagen. Pia war schon wieder im Internet unterwegs. Anita und Vera waren Freundinnen gewesen, der falsche Schneider – Hans Kallweit – und der falsche Goldberg – Oskar – ebenfalls. Keine drei Minuten später hatte sie eine Kurzbiographie von Vera Kaltensee auf dem Bildschirm.
Geboren am 14. Juli 1922 in Lauenburg am Dobensee, Landkreis Angerburg, las sie. Eltern: Freiherr Heinrich Elard von Zeydlitz-Lauenburg und Freifrau Hertha von Zeydlitz-Lauenburg, geborene von Pape. Geschwister: Heinrich (*1898 †1917), Meinhard (*1899 †1917), Elard (*1917, seit Januar 1945 vermisst.) Im Januar 1945 geflüchtet, der Rest der Familie starb bei einem russischen Angriff auf den Lauenburger Treck.
Sie klickte wieder die informative Ostpreußenseite an, gab »Lauenburg« ein und fand einen Verweis auf einen winzigen Ort namens Doba am Dobensee, in dessen Nähe sich die Ruinen des ehemaligen Schlosses der Familie Zeydlitz-Lauenburg befanden.
»Vera Kaltensee und Anita Frings stammten aus derselben Ecke in Ostpreußen wie der falsche Goldberg und der falsche Schneider«, sagte Pia zu ihrem Kollegen. »Wenn du mich fragst, kannten sich alle vier von früher.«
»Kann schon sein«, Ostermann stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und sah Pia an, »aber warum haben sie so ein Geheimnis daraus gemacht?«
»Gute Frage.« Pia knabberte an ihrem Kugelschreiber. Sie überlegte einen Moment, dann griff sie nach ihrem Handy und rief noch einmal Miriam an. Die Freundin meldete sich Sekunden später.
»Hast du etwas zu schreiben da?«, fragte Pia. »Wenn du schon am Suchen bist, dann halte auch mal Ausschau nach einem Hans Kallweit aus Steinort und einer Anita Maria Willumat.«
Das Frankfurter Kunsthaus, eine der ersten Adressen für nationale und internationale zeitgenössische Kunst, befand sich in einem historischen Stadthaus direkt am Römerberg. Pia musste feststellen, wie unpraktisch ihr Geländewagen an einem Samstagnachmittag in der Stadt war. Die Parkhäuser rings um Römer und Hauptwache waren belegt, und eine Parklücke für den klotzigen Nissan zu finden erwies sich als aussichtslos. Schließlich fuhr sie entnervt direkt auf den großen Platz vor dem Frankfurter Rathaus. Es dauerte keine Minute, bis zwei eifrige Politessen auftauchten und ihr bedeuteten,auf der Stelle das Auto wegzufahren. Pia stieg aus und zeigte den Damen Ausweis und Kripomarke.
»Ist die auch echt?«, fragte die eine misstrauisch, und Pia sah sie im Geiste schon in die Marke beißen, um zu überprüfen, ob diese nicht vielleicht aus Schokolade war.
»Natürlich ist die echt«, sagte sie ungeduldig.
»Was glauben Sie, was wir hier alles gezeigt kriegen!« Die Politesse gab ihr Ausweis und Marke zurück. »Wenn wir das alles aufheben würden, könnten wir ein eigenes Museum aufmachen.«
»Ich bleibe auch nicht lange hier stehen«, versicherte Pia und machte sich auf den Weg zum Kunsthaus, das am Samstagnachmittag natürlich geöffnet hatte. Sie selbst konnte zeitgenössischer Kunst nicht viel abgewinnen und war erstaunt darüber, wie viele Menschen sich im Foyer, in den Ausstellungsräumen und auf den Treppen drängten, um die Kunstwerke eines chilenischen Bildhauers und Malers zu bestaunen, dessen Namen Pia noch nie zuvor gehört hatte. Das Café im Erdgeschoss des Kunsthauses war ebenfalls proppenvoll. Pia blickte sich um und kam sich wie eine echte Kulturbanausin vor. Keiner der Künstlernamen auf den Prospekten und Flyern war ihr auch nur annähernd bekannt, und sie fragte sich, was all diese Menschen in den Klecksen und Strichen sahen.
Sie bat die junge Dame am Infostand, Professor Kaltensee darüber zu informieren, dass sie da sei, und verkürzte sich ihre Wartezeit damit, indem sie in einer Broschüre mit dem Programm des Frankfurter Kunsthauses blätterte. Außer der sogenannten »Contemporary Art« in allen Formen unterstützte
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