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Tiefe Wunden

Titel: Tiefe Wunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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Ewigkeit den rechten Blinker gesetzt, aber diese sturen Deppen hinter ihr ließen sie nicht einfädeln. Endlich tat sich eine kleine Lücke auf, sie trat heftig auf das Gaspedal und zwang ihren Hintermann damit zum Bremsen. Promptes Gehupe war die Antwort auf ihr rücksichtsloses Manöver.
    »Du wirst es nicht glauben: ein Immobilienmakler! Er wollte einem Ehepaar das Haus zeigen, und da hockt Watkowiak tot in einer Ecke. Bestimmt nicht gerade verkaufsfördernd.«
    »Sehr witzig.« Pia war nach ihrem Erlebnis mit Elard Kaltensee nicht nach Scherzen zumute.
    »Der Makler sagte, das Haus habe seit Jahren leer gestanden.Watkowiak muss eingebrochen sein, um es gelegentlich als Unterschlupf zu benutzen. Es liegt in der Königsteiner Altstadt. Hauptstraße 75.«
    »Ich bin schon unterwegs.«
    Als sie am Hauptbahnhof vorbei war, wurde der Verkehr flüssiger. Pia legte die Robbie-Williams-CD ein, für die sie von ihren Kollegen lauthals verspottet worden war, und fuhr zu den Klängen von Feel an der Messe vorbei auf die Autobahn. Ihr Musikgeschmack war stark stimmungsabhängig. Bis auf Jazz und Rap mochte sie beinahe alles, und ihre CD-Sammlung reichte von Abba über die Beatles, Madonna, Meat Loaf, Shania Twain bis hin zu U2 und ZZ-Top. Heute war sie in Stimmung für Robbie. Am Main-Taunus-Zentrum bog sie auf die B8 ab und war eine Viertelstunde später in Königstein. Sie kannte die verwinkelten Gassen der Altstadt noch aus ihrer Schulzeit und musste niemanden nach der Adresse fragen. Schon als sie in die Kirchstraße einbog, sah sie ganz oben zwei Streifenwagen und einen Notarztwagen stehen. Das Haus mit der Nummer 75 lag zwischen einem Geschäft für Damenmode und einem Lottoladen. Es stand seit Jahren leer. Mit vernagelten Fenstern und Türen, abblätterndem Putz und einem schadhaften Dach war es zu einem hässlichen Schandfleck im Herzen Königsteins geworden. Der Makler war noch da, ein braungebrannter Mittdreißiger mit Gelfrisur und Lackschuhen, der dem Klischee seines Berufsstandes auf fast schon lächerliche Weise entsprach. Es hatte sich eingeregnet, und Pia schlug die Kapuze ihrer grauen Sweatjacke über den Kopf.
    »Jetzt hatte ich endlich mal Interessenten, und dann das!«, beschwerte er sich bei Pia, als sei es ihre Schuld. »Die Frau hat fast einen Nervenzusammenbruch bekommen, als sie die Leiche gesehen hat!«
    »Vielleicht hätten Sie vorher mal nach dem Rechten sehensollen«, unterbrach Pia den Makler ungerührt. »Wem gehört das Haus?«
    »Einer Kundin hier aus Königstein.«
    »Ich hätte gern Namen und Adresse«, sagte Pia. »Aber vielleicht möchten Sie Ihre Kundin ja lieber selbst über den fehlgeschlagenen Besichtigungstermin informieren.«
    Der Makler hörte den Sarkasmus in ihrer Stimme und warf ihr einen finsteren Blick zu. Er förderte aus seinem Sakko ein Blackberry zutage, tippte darauf herum und notierte Name und Adresse der Hausbesitzerin auf der Rückseite einer seiner Visitenkarten. Pia steckte die Karte ein und blickte sich im Hof um. Das Grundstück war größer, als es zuerst den Anschein hatte, und grenzte mit der Rückseite an den Kurpark. Der marode Zaun war ein wenig geeignetes Mittel, um Unbefugten den Zugang zu verwehren. Vor der Hintertür stand ein uniformierter Kollege. Pia nickte ihm zu und betrat das Gebäude, nachdem sie den Makler abgewimmelt hatte. Das Haus sah von innen nicht viel besser aus als von außen.
    »Hallo, Frau Kirchhoff.« Der Notarzt, den Pia von anderen Tatorten kannte, packte seine Sachen schon wieder zusammen. »Sieht auf den ersten Blick nach einer versehentlichen Selbsttötung aus. Er hat wohl eine halbe Apotheke intus und mindestens eine Flasche Wodka.«
    Er wies mit einem Kopfnicken hinter sich.
    »Danke.« Pia ging an ihm vorbei und begrüßte die anwesenden Streifenpolizisten. Der Raum mit dem abgetretenen Dielenboden war wegen der vernagelten Fensterläden ziemlich düster – und vollkommen leer. Es roch nach Urin, nach Erbrochenem und nach Verwesung. Pia spürte beim Anblick des Toten Ekel in sich aufsteigen. Der Mann lehnte mit dem Rücken an der Wand, umschwärmt von Schmeißfliegen, Augen und Mund weit geöffnet. Eine weißliche Substanz bedeckte sein Kinn und war auf sein Hemd getropft undeingetrocknet, wahrscheinlich Erbrochenes. Er trug schmutzige Tennissocken, ein blutbeflecktes weißes Hemd und eine schwarze Jeans. Seine Schuhe – nagelneue, teuer aussehende Lederschuhe – standen neben ihm. Dem Immobilienmakler sei Dank war die Leiche

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