Tiefe Wunden
SS-Uniform, der eine Stunde zuvor noch unschuldige Menschen gefoltert und hingerichtet hat, im Bett gewesen?« Elard Kaltensee redete sich in Rage, er schrie beinahe, und Pia beschlich ein mulmiges Gefühl, als er nun direkt vor ihr stehen blieb. Schon einmal war sie alleine mit einem Mann gewesen, der sich als Psychopath entpuppt hatte. Die Fassade distanzierter Höflichkeit bröckelte, Kaltensees Augen glänzten wie im Fieber, und er ballte die Hände zu Fäusten.
»Es gibt für mich keine andere Erklärung für ihr Schweigen als diese! Können Sie auch nur ansatzweise verstehen, wie mich dieser Gedanke, diese Ungewissheit meiner Herkunft, quält, Tag und Nacht? Je mehr ich darüber nachdenke, desto deutlicher spüre ich diese ... diese Dunkelheit in mir, diesen Zwang, Dinge zu tun, die ein normaler, ausgeglichenerMensch nicht tut! Und ich frage mich: Warum ist das so? Woher kommt dieses Verlangen, diese Sehnsucht? Welche Gene habe ich in mir? Die eines Massenmörders oder die eines Vergewaltigers? Wäre es anders, wenn ich in einer richtigen Familie aufgewachsen wäre, mit einem Vater und einer Mutter, die mich mit allen meinen Stärken und Schwächen geliebt hätten? Jetzt erst merke ich, was mir gefehlt hat! Ich spüre diesen schwarzen unheilvollen Riss, der sich durch mein ganzes Leben zieht! Sie haben mir meine Wurzeln genommen und mich zu einem Feigling gemacht, der sich nie getraut hat, Fragen zu stellen!«
Er fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund, ging zurück zum Fenster, stemmte die Hände auf das Fensterbrett und lehnte die Stirn an die Glasscheibe. Pia saß stocksteif da und sagte keinen Ton. Wie viel Selbstekel, wie viel Verzweiflung hinter jedem seiner Worte stand!
»Ich hasse sie dafür, dass sie mir das angetan haben«, fuhr er mit gepresster Stimme fort. »Ja, manchmal habe ich sie so sehr gehasst, dass ich sie am liebsten umgebracht hätte!«
Seine letzten Worte versetzten Pia in höchste Alarmbereitschaft. Kaltensee benahm sich mehr als seltsam. War er womöglich psychisch krank? Was sonst konnte einen Menschen dazu veranlassen, einer Polizistin gegenüber so unverhohlen Mordabsichten zu äußern?
»Von wem sprechen Sie?«, fragte sie nun. Ihr war aufgefallen, dass er im Plural gesprochen hatte. Kaltensee fuhr herum und starrte sie an, als würde er sie das erste Mal sehen. Sein starrer Blick aus blutunterlaufenen Augen hatte etwas Wahnsinniges. Was sollte sie tun, wenn er sich nun auf sie stürzte, um sie zu würgen? Ihre Dienstwaffe hatte sie leichtsinnigerweise zu Hause im Schrank gelassen, und niemand wusste, dass sie hierhergefahren war.
»Von denen, die Bescheid wissen«, erwiderte er rau.
»Und wer ist das?«
Er ging zur Couch und setzte sich hin. Plötzlich schien er wieder zur Besinnung gekommen zu sein, denn er lächelte, als ob nichts gewesen wäre.
»Sie haben Ihre Cola gar nicht getrunken«, stellte er fest und schlug die Beine übereinander. »Möchten Sie Eiswürfel?«
Pia ging nicht darauf ein.
»Wer weiß Bescheid?«, insistierte sie, obwohl ihr Herz in der Gewissheit, einem dreifachen Mörder gegenüberzusitzen, heftig klopfte.
»Es spielt keine Rolle mehr«, erwiderte er ruhig, fast heiter und trank seine Cola light aus. »Jetzt sind sie ja alle tot. Bis auf meine Mutter.«
Erst als sie wieder in ihrem Auto saß, fiel Pia ein, dass sie vergessen hatte, Kaltensee noch einmal nach der Bedeutung der ominösen Zahl und nach Robert Watkowiak zu fragen. Sie war immer stolz auf ihre gute Menschenkenntnis gewesen, aber bei Elard Kaltensee hatte sie völlig danebengelegen. Sie hatte ihn für einen kultivierten, gelassenen und charmanten Mann gehalten, der mit sich und der Welt im Reinen war. Auf den unerwarteten Blick in die düsteren Abgründe seiner inneren Zerrissenheit war sie nicht vorbereitet gewesen. Pia wusste nicht, was sie mehr erschreckt hatte: sein heftiger Ausbruch, der Hass hinter seinen Worten oder der abrupte Wechsel zu heiterer Normalität. »›Möchten Sie Eiswürfel‹«, murmelte sie. »So was!«
Verärgert bemerkte sie, dass ihr Bein zitterte, wenn sie die Kupplung trat. Sie zündete sich eine Zigarette an und bog auf die Alte Brücke ab, die über den Main nach Sachsenhausen führte. Allmählich wurde sie wieder ruhiger. Nüchtern betrachtet war es durchaus denkbar, dass Elard Kaltensee diedrei Freunde seiner Mutter erschossen hatte, weil sie ihm nicht die Wahrheit über seine Herkunft hatten sagen wollen und er ihnen die Schuld an seinem
Weitere Kostenlose Bücher