Tiefe
dann heimlich zum Fenster. Er hatte erwartet, daß sie da draußen stehen und ihn betrachten würde.
Das Fenster war leer.
Er verstand das nicht. Sie benahm sich nicht, wie sie sollte. In seiner Kindheit und Jugend hatten ihn seine Eltern unter konstanter Bewachung gehalten. Er spähte durch Türspalten oder warf verstohlene Blicke in Spiegel, um heimlich in die Zimmer zu sehen, in denen die Eltern sich aufhielten, zusammen oder allein oder in der Gesellschaft von anderen. In der Phantasie bohrte er unsichtbare Löcher in den Boden der oberen Wohnung in dem Haus an der Skepps-bron, in dem sie wohnten, um in das Büro des Vaters blicken zu können.
Er hatte gelernt, sich nicht zu verraten, wenn er ihren erregten Gesprächen lauschte, sie sich betrinken sah oder, was oft bei seiner Mutter der Fall war, weinend allein dasitzen sah.
Seine Mutter weinte immer lautlos. Es war, als würde ihr Schmerz auf leisen Pfoten gehen.
Die Erinnerungsbilder durchquerten im Sturzflug seinen Kopf. Er stand auf und ging zum Fenster, das mit einer dünnen Schicht des Meersalzes bedeckt war, das ständig über die Schäre wirbelte.
Er entdeckte sie auf dem Pfad zur Bucht hinunter. Er nahm an, daß sie die Festmacher der Jolle prüfen wolle, damit sie sich nicht losriß.
Er schaute sich im Zimmer um. Sie hatte eben noch Holz nachgelegt. Das Feuer duftete nach Wacholder. Die Flammen warfen ihren Schein an die Wände. In dem Zimmer befand sich eine niedrige Tür, die geschlossen war. Er ging hinüber und probierte die Klinke. Die Tür war nicht zugesperrt und führte in eine fensterlose Kammer. Ein paar Holzbottiche standen in einer Ecke, Wollscheren und schadhafte Wollkämme lagen auf dem Boden, außerdem gab es auch ein paar zusammengefaltete Mehlsäcke. Ein noch nicht fertig geknüpftes Heringsnetz hing an einer Wand. Er betrachtete den Raum und die Gegenstände eingehend, als wäre es wichtig, sich zu merken, wie alles aussah.
Sara Fredrika war immer noch draußen. In dem großen Zimmer gab es einen Eckschrank, undicht, mit rostigen Angeln. Sollte er es wagen, den Schlüssel umzudrehen? Vielleicht würde die Tür herausfallen. Er drückte die Hand gegen den Schrankrahmen und öffnete die Tür.
Auf dem einzigen Brett gab es zwei Gegenstände, ein Gesangbuch und eine Pfeife. Die Pfeife war von der Art, wie Leutnant Jakobsson sie gern im Mundwinkel hängen hatte. Er nahm sie zwischen die Finger und roch daran. Sie war offenbar lange nicht benutzt worden, die Kohle von dem verbrannten Tabak im Pfeifenkopf war hart geworden. Sie roch immer noch nach altem Teer. Er legte die Pfeife wieder hin, schaute auf das Gesangbuch, ohne es zu berühren, und schloß dann die Schranktür.
Er hockte sich hin und tastete mit den Fingern unter dem Bett. Da war etwas Kaltes, ein altmodisches Gewehr, das fühlte er, ohne es hervorzuziehen. Er drückte das Gesicht auf das Kissen und versuchte, ihren Duft zu spüren. Das einzige, was er wahrnahm, war Feuchtigkeit. Eine feuchte Einsamkeit, dachte er. Das ist ihr Duft.
Es hatte einen Mann in dem Haus gegeben, einen Mann, der eine gut eingerauchte Stummelpfeife und ein altes Gewehr hinterlassen hatte.
Vielleicht gab es ihn noch? Vielleicht befand er sich auf einer Fisch-Handelsfahrt durch Slätbaken nach Söderköping. Es war Herbst, und Schweden war ein Land voller Märkte.
Der Sturm schlug immer noch gegen die Wände. Er versuchte, den Mann vor sich zu sehen, konnte aber kein Gesicht hervorrufen.
Die Tür wurde aufgerissen. Sara Fredrika war wieder da. Der kalte Wind fegte ins Zimmer.
»Ich habe nach den Booten geschaut«, sagte sie. »So eins wie das Ihre habe ich noch nie gesehen.«
»Es ist ein Dingi. Wir haben vier Stück, falls das Schiff geräumt werden muß. Außerdem haben wir zwei große Barkassen. Niemand soll zurückbleiben, falls das Schiff zu sinken droht. Auch wenn man es nicht glauben mag, das Dingi ist als KriegsWasserfahrzeug registriert.«
Sie schürte das Feuer. Er dachte, ihre Bewegungen seien exakt und zielbewußt, daß sie aber eigentlich eine Unruhe oder Ungeduld zu verbergen suchte.
Sie setzte sich wieder auf die Pritsche. Das Feuer war erneut aufgeflammt, er konnte sie deutlich sehen.
In ihm machte sich ein Gefühl breit, das er nicht näher bestimmen konnte. Irgendwie fühlte er sich hereingelegt, betrogen. Die Stummelpfeife im Schrank gehörte jemandem, der in diesem Haus gewesen war, es vielleicht erbaut hatte, der mit ihr das Bett geteilt hatte und vielleicht
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