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Tiefe

Tiefe

Titel: Tiefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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siebenundzwanzig Jahre alt, und mich kann nichts mehr erschrecken.«
    »Ich würde gern wissen, was geschehen ist.«
    Ein Windstoß ließ das ganze Haus erzittern.
    »Irgendwann kann das einfach einstürzen«, schrie sie in einem plötzlichen Ausbruch. »Ich lasse es um mich herum rasen.«
    Sie redete weiter, in langen Sätzen. Sie formulierte sorgfältig, wie nur jemand es tut, der viel mit sich selbst spricht. Als sie abrupt verstummt war, als hätte es sie gereut, konnte er für einen Moment den Wind nicht mehr hören. Hatte der Sturm sich schon gelegt?
    Er lauschte. Sie hatte sich wieder in den Schatten zurückgezogen.
    Der Wind gewann neue Kraft.
    Sie hatte gesprochen, ohne zu zögern, hatte bis ins Detail gewusst, was sie sagen wollte. Es war, als hätte sie schon viele
    Male erzählt, aber kaum jemand anderem als sich selbst, warum sie sich allein auf Halsskär befand. Oder vielleicht hatte sie an den Abenden, in der Dunkelheit, geübt, es jemandem zu erzählen. Sie hoffte, daß jemand kommen würde.
    Plötzlich war es, als wäre er aus einem einzigen Grund nach Halsskär gerudert.
    Er war gekommen, damit sie jemanden hätte, der ihr zuhörte.
    Der Mann, der seine Pfeife hinterlassen hatte, hieß Nils Ferdinand Persson.
    Er war Sara Fredrikas Mann gewesen.
    Die Geschichte hatte einige Jahre zuvor begonnen, als sie als frisch Verheiratete bei ihrem Verwandten Axel Theodor Homeros Lundberg als Dienstboten arbeiteten. Er war wohlhabend und besaß Höfe bei Gusum sowie in den Schären bei Finnö und so weit nördlich wie auf Risö. Sie hatten sich bei Lundberg nicht wohl gefühlt. Er war geizig und bösartig und schien nur seine Stiefel zu lieben, die er dauernd mit Seehundsfett einschmierte und die keiner anfassen durfte, nicht einmal seine verängstigte Frau. Sie hielten es ein Jahr lang aus, bis sie im Zorn kündigten und auf einer der Inseln in der Turmulebucht landeten. Es war ein miserabler Pachthof, aber es gab dort wenigstens niemanden, der Stiefel einschmierte und nach ihnen brüllte. Dort blieben sie ein weiteres Jahr, ehe sie erfuhren, daß ein verlassenes Häuschen draußen auf Halsskär frei war. Das konnten sie für eine niedrige Pacht haben, fast umsonst, jedes Frühjahr und jeden Herbst eine Tonne Hering, sonst nichts. Sie waren an einem kühlen Sonntag im März hingesegelt, es war ein strenger Winter, und das Eis hatte seinen Griff noch kaum gelockert. Aber sie kamen hinaus auf die Schäre, und obwohl das Häuschen in einem erbärmlichen Zustand gewesen war, hatten sie nicht gezögert. Ihr Mann hatte gesagt, nichts könne schlimmer sein als brüllende Großbauern. Häuser konnte man abdichten, Heringsnetze und andere Netze flicken und ausbessern, aber niemand konnte einem Großbauern das Maul stopfen, wenn er brüllte und schrie.
    Sie zogen im Sommer hinaus, renovierten das Haus und bereiteten sich auf das vor, was kommen würde, auf den Herbst, den Winter, das Eis, die Einsamkeit.
    Ab und an tauchten Bauern aus den inneren Schären in der weiten Märsbucht auf, die hinaus nach Halsskär und Krampbädorna führte. Sie kamen zu den Heringsgründen und zur Vogeljagd gesegelt und staunten, als sie Sara und ihren Mann vorfanden. War Halsskär nicht schon seit hundert Jahren menschenleer? 1807 hatte dort eine einsame Magd gewohnt, die erfroren und dann von Möwen und Krähen zerhackt worden war. Seitdem war die Schäre nicht bewohnt gewesen. Die Scheunen waren verfallen, die Anlegebrücken in der Bucht vermodert, die Häuser, die beweglich waren, hatte man abgetragen, Stamm für Stamm, und auf den grünen Inseln weiter drinnen zum Land hin wieder aufgebaut.
    Man sagte, Nils Ferdinand Persson und seine Frau Sara Fredrika hätten Hochmut an Bord, und ein so beladenes Boot würde gewöhnlich als erstes untergehen.
    Es kamen auch Leute von Aland sowie Finnen, die heimlich Robbenjagd betrieben. Sie schüttelten ihre Köpfe und drückten in ihrer unbegreiflichen Sprache Warnungen aus.
    Der Herbst kam im September, der erste Sturm war ganz unerwartet, er zog mitten in der Nacht von Osten auf, und es war der reine Zufall, daß sie keine Heringsnetze im Wasser hatten. Sie lernten schnell, und jedesmal, wenn die Netze ausgeworfen waren, hielten sie Wacht über das Meer, versuchten, die Zeichen deuten zu lernen, wenn gefährliche Winde aufzukommen drohten.
    Im November rutschte eins von den Schafen auf einer Klippe aus und brach sich ein Bein. Sie hatten zwei Schafe, aber keine Kuh. Das andere Schaf legte sich

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