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Tiefe

Tiefe

Titel: Tiefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Menschen gewohnt haben«, sagte er. »Eine, vielleicht zwei Familien, die sich festgebissen hatten. Daß das Leben aber schließlich zu hart wurde und die Bewohner die Schäre verließen.«
    Sie antwortete nicht. Der Wind rüttelte an den Wänden, die Hütte war morsch, obwohl er sah, daß sie versucht hatte, sie abzudichten.
    »Ich erinnere mich Wort für Wort daran, was in dieser Steuerliste stand«, fuhr er fort. »Vielleicht war es keine Steuerliste, sondern ein Behördenbrief von einem Steuereintreiber. Vielleicht hieß er Fahlstadt. Ich erinnere mich Wort für Wort daran.«
    Er sagte aus dem Gedächtnis auf: »Sie wohnen auf einer Klippe im wilden Meer, woselbst es weder Feld, Wiese oder Wald gibt, sondern sie müssen aus dem offenen Meer, oft unter Lebensgefahr, alles holen, was sie essen und womit sie sich kleiden und so weiter.«
    »Das klingt wie ein Gebet«, sagte sie. »Wie ein Pfarrer.«
    Sie saß immer noch in der Dunkelheit, aber ihre Stimme war näher gekommen. Sie hatte den besonderen Klang, den die Stimme annimmt, wenn man auf See zwischen den Booten ruft, in einer steifen Brise und bei Gegenwind. Ihr Dialekt war weniger ausgeprägt, als er es von anderen aus dieser Gegend kannte. Es gab an Bord der Blenda Matrosen, die aus diesem Teil des Schärenmeers stammten, einer von Gräs-marö, und ein anderer war ein Lotsensohn von Häradskär. Es gab auch einen Heizer aus Kättilö, und der sprach genau wie sie, wie die Stimme aus der Dunkelheit.
    Plötzlich rückte sie aus der Dunkelheit heraus. Sie blieb auf der Pritsche sitzen, beugte sich aber vor und sah ihm direkt in die Augen. Daran war er nicht gewöhnt, seine Frau tat das nie. Er wich ihrem Blick aus.
    »Lars Tobiasson-Svartman«, sagte sie. »Sie sind ein Militär und tragen Uniform. Sie rudern im Unwetter herum. Sie tragen einen Ring. Sie sind verheiratet.«
    »Meine Frau ist tot.«
    Er sagte das ganz selbstverständlich, nichts war gespreizt. Er hatte es nicht geplant, aber er war auch nicht überrascht von dem, was er sagte. Eine eingebildete Trauer wurde Wirklichkeit. Kristina Tacker hatte nichts in diesem Häuschen zu suchen. Sie gehörte jetzt zu einem anderen Leben als er, wie in einem umgedrehten Feldstecher, in einem weiten Abstand von ihm selbst platziert.
    »Meine Frau Kristina ist tot«, wiederholte er und dachte, es klinge immer noch so, als ob er die Wahrheit sagte. »Sie ist vor zwei Jahren gestorben, es war ein Unfall. Sie ist gestürzt.«
    Wie war sie gestürzt? Und wo? Wie sollte er sie dem sinnlosesten aller Tode aussetzen?
    Er beschloß, sie in einen Abgrund hinabstürzen zu lassen. Das mußte die, welche im Dunkel saß, verstehen können. Aber er würde sie nicht allein stürzen lassen. Die Eingebung kam mit solcher Kraft über ihn, daß er nicht zu widerstehen vermochte.
    Sie sollte ein Kind bei sich haben, eine Tochter.
    Wie sollte er sie nennen?
    Sie mußte einen Namen haben, der ihrer würdig war. Laura sollte sie heißen. So hatte die Schwester von Kristina Tacker geheißen, die jung und von Tuberkulose hustend gestorben war, Laura Amalia Tacker. Die Toten gaben den Lebenden ihre Namen.
    »Wir befanden uns auf einer Reise in Skäne. Bei Hovs Hallar, mit unserer Tochter. Sie war sechs Jahre alt, ein Kind ohnegleichen. Meine Frau stolperte draußen am Steilhang und stieß dabei unsere Tochter an. Ich schaffte es nicht bis hin, und sie stürzten ab. Ihre Schreie werde ich niemals vergessen. Meine Frau brach sich beim Sturz das Genick, eine scharfe Felsspitze drang tief in den Kopf meiner Tochter ein. Sie lebte noch, bis man sie aus dem Abgrund hochgeholt hatte. Sie sah mich an, als würde sie mich anklagen, und dann starb sie.«
    »Wie kann man eine so große Trauer ertragen?«
    »Man erträgt das, was man ertragen muß.«
    Sie legte ein paar abgebrochene Zweige in den Kamin. Das Feuer holte Kraft aus dem feuchten Holz.
    Er merkte, daß er sie näher heranzog. Es war, als würde er alle ihre Bewegungen lenken. Er sah jetzt ihr Gesicht, die Augen waren weniger wachsam.
    Er dachte, es sei sehr einfach, seine Frau und seine Tochter zu töten.
    Der Sturm rüttelte an den Wänden der Hütte. Er hatte seinen Höhepunkt noch lange nicht erreicht.
Teil 4 DER HERBST, DER WINTER, DIE EINSAMKEIT
    Ihre Gespräche waren kurz.
    Obwohl er sich die ganze Zeit in dem engen Raum in ihrer Nähe befand, war es, als würde der Abstand sich vergrößern.
    Spät am Nachmittag stand sie auf und verließ das Haus. Er saß regungslos da und schaute

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