Tiefer - Im Sog der Lust (German Edition)
Veranda verbarg den Großteil des Strandes vor ihrem Blick, aber sie konnte die weißen Wellenkämme sehen, als die Flut immer höher stieg. Heute Abend würde es eine gewaltige Unterströmung geben, dessen war sie sich sicher.
Bess war nie eine große Schwimmerin gewesen, auch wenn sie jeden Sommer ihrer Kindheit am Strand verbracht hatte. Sie mochte es, Burgen zu bauen oder einfach im Sand zu liegen, auch wenn die vielen Sonnenbrände von damals dazu geführt hatten, dass sie heute panisch jede Sommersprosse und jeden Leberfleck auf ihrer hellen Haut untersuchte. Sie mochte es, ihren Liegestuhl an die Wassergrenze zu stellen und die Füße von den kleinen Wellen kitzeln zu lassen, während sie sich in Geschichten aus anderen Welten verlor. Wenn der Tag heiß genug wurde, mochte sie kurz ins Wasser springen, um sich abzukühlen, aber sie mochte es nicht, im Meer zu schwimmen.
Weil sie einmal fast ertrunken wäre.
Sie erinnerte sich nicht mehr genau daran, sie wusste nur, dass sie noch sehr klein gewesen war. Ihre Großmutter hatte ihre eine und ihre Mutter die andere Hand gehalten, und Bess hatte fröhlich im flachen Wasser getollt und gespritzt. Bis eine größere Welle gekommen war und sie den sicheren Händen entrissen hatte. Kopfüber war sie unter Wasser gezogen worden. Sie konnte sich an das Ziehen der Gezeiten erinnern und wie der Sand an ihrem Rücken und Gesicht gekratzt hatte, als sie wieder und wieder herumgerollt worden war. Instinktiv hatte sie den Atem angehalten und ihre Augen gegen das brennende Salzwasser geschlossen. Innerhalb von Sekunden hatten ihre Lungen angefangen wehzutun; ein Schmerz, der schlimmer war als die Kratzer an Knien und Ellbogen. Eine zerbrochene Muschelschale hatte ihre Hand aufgeschnitten, als sie nach etwas gesucht hatte, woran sie sich festhalten konnte.
Kurz bevor man sie aus dem Wasser zog, hatte der Schmerz aufgehört. Und sie hatte etwas gesehen …
„Das Grau.“ Bess schreckte auf; sie hatte sich auf die Zunge gebissen, und die Wörter auf ihren Lippen schmeckten nach Blut.
Bess war aus dem Wasser gezogen worden, und sie hatte das ganze Meerwasser ausgespuckt. Bis heute hatte sie ganz vergessen, wie die Welt damals grau geworden war. Bis jetzt. Bess setzte sich auf, ihr Herz klopfte. Die Decke war ihr zu den Füßen gerutscht.
Sie roch Salzwasser und Algen, und blinzelnd drehte sie sich zur Tür, wo ein dunkler Schatten stand.
Sie hörte das leise pling-pling von Wasser, das auf den Holzboden tropfte. Sie hörte das Geräusch ihres eigenen Atems. Sie hörte das Rauschen des Meeres vor der Tür.
Sie öffnete ihre Arme.
Er kniete sich zu ihren Füßen und vergrub sein Gesicht in ihrem Schoß. Seine Schultern zuckten. Sein nasses Haar durchnässte ihren Rock, und seine Haut unter ihren Händen war heiß und feucht. Bess fuhr mit den Fingern über die einzelnen Wirbel auf seinem Rücken, die sanfte Kurve seiner Rippen entlang. Er war immer schlank gewesen, aber jetzt erschien er ihr auch zerbrechlich.
Nick schluchzte einmal und umfasste ihre Oberschenkel. Der Geruch des Meeres übertönte alles andere, sein üblicher, sinnlicher Geruch nach Seife und Rasierwasser mit einem Hauch Rauch war verschwunden. Ein Stöhnen entrang sich tief seiner Kehle und brach Bess’ Herz gleich noch einmal.
„Lass mich nie wieder allein.“ Jedes Wort klang wie aus ihm herausgefoltert. Seine Finger vergruben sich im Stoff ihres Rocks.
Obwohl er eine Hitze ausstrahlte wie von der Sonne aufgeheizter Sand, nahm Bess sich die Decke und wickelte sie um ihn. Dann ließ sie sich neben ihn auf den Fußboden gleiten. Nick vergrub sein Gesicht an ihrem Hals. Sein nasses Haar kitzelte an ihrer Wange. Bess hielt ihn fest, beide zusammen in die Decke eingehüllt, und fragte sich, was sie sagen konnte, um alles wieder gutzumachen.
„Wenn du weg bist, denke ich immer, dass du nicht mehr wiederkommst.“
Bess rieb ihre Wange an seinem Haar. „Ich bin aber wiedergekommen, Nick.“
Seine Arme umfassten sie fester. Seine Schultern zuckten noch ein oder zwei Mal, dann entzog er sich ihr. Seine Augen blitzten im Lichtstrahl, der durch das Fenster fiel, auf. Aber sie sah keine Tränen.
„Ich musste mal raus“, sagte sie leise. Sie schob sein langsam trocknendes Haar aus seiner Stirn und legte ihre Hand an seine Wange.
Sie hatte sich Nick immer als völlig furchtlos vorgestellt. Sie war diejenige, die Zweifel hatte. Erst rückblickend konnte sie sehen, dass er genauso viel Angst gehabt hatte
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