Tiefer Schmerz
der Art wie ein normaler Einwanderer?«
»So in der Art«, sagte Bruun mit einer Neutralität, die Chavez auf der Stelle verstehen ließ. Hultins Wurzeln und Hjelms Wurzeln verstehen ließ. Es war ein erhellender Augenblick.
Bruun fuhr fort:
»Jungs, Jungs, ihr habt einen ehemaligen Pensionär als Chef. Das hat nicht jeder. Als Jan-Olov Pensionär war, spielten wir einmal die Woche im Kulturhaus Schach. Das war der Höhepunkt meines Lebens. Vorbei. Ich bin einsam auf eine Weise, wie nur ein alter Polizist einsam sein kann. Vollständig einsam.«
Hjelm und Chavez tauschten einen Blick und fühlten, daß dies hier anstrengend werden konnte.
»Vergeßt nur nicht, daß ich weiß, was ihr denkt«, fuhr Bruun fort und lächelte. »Alle beide.«
»Du kennst mich doch gar nicht«, sagte Chavez gereizt.
»Wieso behauptest du, zu wissen, was ich denke?«
»Weil ich weiß, was für Polizisten ihr seid.«
»Hör auf«, sagte Chavez.
»Ihr habt gedacht, das, was ihr gehört habt, sei der Anfang eines Klagelieds. Aber das ist nicht der Fall. Ich bin vollständig einsam – und ich will vollständig einsam sein. Es paßt mir ausgezeichnet. Ich hoffe, daß ich auch die Möglichkeit haben werde, vollständig einsam zu sterben. Ich will, daß man meine Leiche erst findet, wenn sie angefangen hat zu stinken. Ich will, daß man mich aus einem Meer weißer Leichenwürmer herausfischt.«
Die Kombination der Bildsprache mit dem Schimmelfaktor war ekelerregend.
»Wie meinst du das?« sagte Hjelm.
»Das weißt du ganz genau. Du bist genauso, trotz Frau und Kindern und Hund und Katze.«
»Papagei«, sagte Hjelm.
Chavez lachte auf, kurz und abrupt. Wie ein Papagei. Der Alte ging ihm wirklich auf die Nerven. Er war ein Besserwisser, das war mal klar.
»Jorge Chavez«, sagte Bruun und sah ihn ein wenig schräg von der Seite an. »Du hältst mich für einen Besserwisser, nicht wahr?«
»Stimmt«, sagte Chavez und versuchte, unberührt zu erscheinen.
»Ich finde nur, daß das Glück ein bißchen zu vorhersagbar geworden ist. Wir wissen von vornherein, was der Begriff ›Glück‹ umfassen soll, und ganz unten auf der Skala liegt Einsamkeit. Hinter Geisteskrankheit und Drogenabhängigkeit. Geisteskranke und Drogensüchtige können wir verstehen, wir sozial geschulte Wesen, aber Einsame werden wir nie verstehen. Die Einsamkeit ist ein Unzustand, den wir um jeden Preis zu überwinden versuchen. Wir nehmen jedes erdenkliche Leiden auf uns, nur um nicht einsam sein zu müssen.«
»Du willst also eine Ehrenrettung der Einsamkeit erreichen?« sagte Chavez skeptisch.
»Ehre hat mit der Sache nichts zu tun. Wir leben ganz einfach in einer Gesellschaft, die einen Horror vor der Einsamkeit und vor dem Schweigen hat. Ich will einsam sein, und ich will, daß Schweigen um mich ist. Euch kenne ich auf die Art und Weise, wie ich Menschen kennen will. Ziemlich detailliert, aber aus reichlich Abstand.«
»Was meinst du damit? Wie solltest du uns denn kennen?«
»Wie, glaubst du, haben wir uns bei jenen Schachpartien die Zeit vertrieben? Wie Pensionäre es tun: Wir haben Erinnerungen ausgetauscht.«
»Also ihr habt ganz offen im Kulturhaus gesessen und die Persönlichkeit einzelner Polizisten diskutiert?«
»Ihr hattet Kodenamen. Du, Jorge, warst Soli. Und du, Paul, warst Keve.«
»Keve Hjelm«, sagte Paul Hjelm. »Was für eine unknackbare Chiffrierung.«
»Keve Hjelm war der erste Martin Beck im Film«, sagte Erik Bruun und blickte zu seinem einstigen Adepten auf.
»Ich bin aber nicht direkt Martin Beck«, meinte Hjelm verlegen.
»Nicht direkt, nein«, sagte Bruun kryptisch.
»Und Soli, was ist das?« sagte Chavez.
»Das charakteristischste Werk des mexikanischen Komponisten Carlos Chavez.«
»Ihr scheint euch ja königlich amüsiert zu haben«, sagte Chavez sauer. »Und was habt ihr über mich gesagt – über Soli?«
»Das ist vertraulich«, sagte Bruun erhobenen Hauptes.
»Aber ihr wurdet so durch die Mangel gedreht, daß ich beanspruchen kann, ungefähr zu verstehen, wie ihr denkt.«
Ohne nachzudenken biß Hjelm noch ein Stück von der Zimtschnecke ab. Er bereute es lange.
»Was weißt du denn von diesem Fall?« fragte er und spürte, wie sich die schimmelige Zimtschneckenpampe am Gaumen festsetzte. Jeder Versuch, sie mit der Zunge abzustreifen, war vergebens.
»Viel zu wenig«, sagte Bruun bedauernd. »Jan-Olov war nicht richtig wie sonst. Glaubt ihr, er brütet irgendeine Krankheit aus?«
»Kaum«, sagte Hjelm. »Aber er
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