Tiefer Schmerz
selig wie Mikaelas, denn ihr eigenes verkümmerte, als es mit seinem moralisch verdorbenen Spiegelbild konfrontiert wurde. Sie lief hinaus zwischen die Weinstöcke und schämte sich wie ein Hund. Er lief hinter ihr her und schrie über den ganzen Weinberg, daß alles in Ordnung sei, solange der Junge Kondome benutzte. Vier weiße Köpfe in unterschiedlicher Höhe über dem Boden starrten ihn an, als er dastand und P-Wörter über die Weinstöcke rief. Sogar Klein-Lina kannte P-Wörter, und sie wußte, daß P-Wörter nicht gut waren, aber was P-Wörter waren, wußte sie nicht. Pornowörter, sagte die Zweitälteste Tochter mit der Glut des Verbotenen im Blick. Ojojoj, sagte Lina und wußte auch nicht, was Pornowörter waren.
Am Ende kroch jedenfalls Mikaela mit glühenden Wangen wie ein besprühter Coloradokäfer zwischen den Weinstöcken hervor.
Als Anja sich aus dem Bett hochgerappelt hatte und auf den Altan hinaustrat, standen ihr Mann und ihre Tochter eng umschlungen in der milden Morgensonne, flankiert von vier weißen Köpfen in unterschiedlicher Höhe über dem Boden. Die Kräuter hüllten die Szene in einen himmlischen Duftschleier, und das Gezwitscher der Vögel zwischen den Olivenbäumen des Gartens erfüllte die Luft. Es war ein Bild, das sie nie vergessen würde. Das Paradies gab es wirklich.
Für Arto aber war es doch nur eine äußere Hülle. Anja sah es ganz deutlich und schaltete heimlich das Handy ein. Früher oder später würden sie anrufen, das wußte sie.
Und ein paar Tage später war es soweit.
Familie Söderstedt befand sich in Florenz. Es war das zweite Mal seit ihrer Ankunft in der Toskana. Beim ersten Mal hatte Michelangelos Medici-Kapelle in San Lorenzo ihn so aus der Fassung gebracht, daß er ganz einfach dablieb. Nach einer halben Stunde auf den ziemlich wenigen Quadratmetern hatte seine Familie genug und begab sich in die Stadt. Sie nahmen in einem ausgezeichneten Lokal an der Lugarno Acciaioli am Arno ein ordentliches Mittagessen zu sich und schlenderten anschließend in aller Ruhe zurück über die Piazza della Signoria und Il Duomo und gelangten nach drei Stunden zurück zur Medici-Kapelle. Da stand der Vater immer noch auf den wenigen Quadratmetern, den Blick auf die grünweißen Marmorwände geheftet. Es war ihm plötzlich so vorgekommen, als hätte er, wie durch eine Offenbarung, das ganze Geheimnis der Renaissance verstanden. Der zurückhaltende Exzeß, der sich hinter Michelangelos stets gleich exaktem Handwerk verbarg, hypnotisierte ihn. Alles war möglich – und dennoch wurde nicht alles gemacht. Es gab da einen Verzicht, der nicht asketisch war, sondern der im Gegenteil gerade zeigte, daß jetzt, genau jetzt, im frühen sechzehnten Jahrhundert in Florenz, alles, wirklich alles möglich war. Arto Söderstedt mußte mit Gewalt fortgezerrt werden.
Also durfte die Familie zu einem etwas normaleren Besuch wiederkommen. Sich ein bißchen so verhalten, wie es sich für eine richtige Touristenfamilie aus dem barbarischen Skandinavien gehörte.
Sie saßen oben auf der anderen Seite des Arno in einem Restaurant an der Piazzale Michelangelo um einen runden Tisch und blickten über die Stadt. Aus der Vogelperspektive dürften sie ausgesehen haben wie ein kreisrundes Perlenhalsband.
Da klingelte das Handy.
Arto Söderstedt, der vom Autofahren befreit war, hatte eine Flasche Wein bestellt und reagierte nicht. Das Telefon klingelte weiter, und er reagierte immer noch nicht. Die Familie betrachtete ihn immer skeptischer.
»Ist Papa tot?« fragte Klein-Lina und fürchtete, vielleicht ein P-Wort ausgesprochen zu haben.
»Vielleicht, vielleicht nicht«, sagte Anja. »Es ist kein großer Unterschied.«
Da sprach er endlich, mit mechanischer Stimme: »Es kann unmöglich mein Handy sein. Das ist ausgeschaltet. Ausgeschaltete Handys klingeln nicht.«
Sie warteten. Die Zeit stand still.
Später, mit dem Lauf einer sehr grobkalibrigen Pistole im Mund, sollte Arto Söderstedt sich an diesen Augenblick erinnern und denken: Da, genau da, war alles möglich. Da, genau da, wäre es möglich gewesen zu verzichten, und es wäre kein asketischer Verzicht gewesen. Gerade in dem Augenblick hättest du darauf verzichten können, den Anruf auf deinem Handy anzunehmen. Dann hätte alles so bleiben können, wie es war, in einem paradiesischen Zustand, den du, Dummkopf, der du bist, in deinem Unverstand nicht zu würdigen gewußt hast. Du hattest die Möglichkeit zu diesem Verzicht und hast dich anders
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