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Tiefer Schmerz

Tiefer Schmerz

Titel: Tiefer Schmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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Welt leben, in der alle anderen Menschen steifgefroren sind.
    Ich weiß, daß ich Tatsachen aufzeichnen sollte. Zeugnis ablegen. Detaillierte Berichte produzieren. Etwas, was die Nachwelt verifizieren und wovon sie etwas lernen kann. Irgendwann, lange, lange nach meinem Tod, wird all das, was hier geschieht, verurteilt werden, und ich sollte mir schon jetzt eine Methode ausdenken, damit meine Papiere mich überleben, sollte Wege für sie finden, Fluchtwege, um jeden Preis Nutzen und Gewinn aus diesem Bleistiftstummel und aus diesen wenigen Blättern ziehen, die schon jetzt, fast während ich schreibe – so bewegt sich die Zeit – vergilbt sind. Aber ich kann nicht. Ich kann keine Tatsachen aufzeichnen. Mein Geist funktioniert nicht so.
    Er funktioniert überhaupt nicht.
    Er ist nur ein Hirn, ein Mechanismus. Wie die Uhr. Und der Körper, er ist der Glockenturm, für einen einzigen Zweck gebaut: zu halten.
    Nicht auseinander zu fallen, während der Mechanismus seziert wird.
    Vielleicht sind sie Uhrmacher, die drei Offiziere.
    Doch dann sehe ich wieder die Zeit, und sie ist wieder ein Wunder. Jetzt richtet er sich auf zum Sitzen. Und meine Frau hält ihn mit den Händen, nicht so, daß sie seinen kleinen dünnen Rücken berühren, aber ganz dicht, und zwischen der Hand und dem Rücken ist ein Feld, ein Magnetfeld von Leben, und das, was dort zwischen ihnen ist, das ist auch zwischen mir und ihnen, und ich weiß: Wenn dies nicht mehr da ist, dieses Magische, das wie ein Feld von Leben zwischen uns ist, wenn das nicht mehr ist, sind auch sie nicht mehr. Und sie sind nicht mehr. Sie sind tot. Ich bin tot. Warum bewege ich mich dennoch? Das Zucken des Fisches, nachdem ihm das Rückgrat gebrochen ist. Das Rennen des Huhns, nachdem es geköpft ist.
    Ich bin zu erregt.
    Wo ist meine Beherrschung?
    Ich schließe für heute.
    Genug.
    Sterben.
     
    Fünfzehnter Februar 1945
     
    Ich lebe.
    Eine kurze Weile noch. Einen kleinen Atemzug noch.
    Dieses Krachen draußen in den Straßen, der wirbelnde Steinstaub, der durch die Fenster hereingeweht wird, das sollte Hoffnung wecken. Ich wage nicht zu hoffen. Für mich gibt es keine Hoffnung mehr. Meine Familie ist tot, und mein Name steht zu hoch oben auf der Liste.
    Unser Tiergarten … Wir wanderten. Jenseits des Kanals lag der Zoo. Franz lachte und zeigte auf einen Pelikan. Er saß auf meinen Schultern.
    Nein, es geht nicht.
    Doch.
    Mein Sohn saß auf meinen Schultern. Seine kleinen Fersen schlugen an meine Jacke und hinterließen unauslöschliche Spuren. Sie sind noch da, obwohl die Jacke verbrannt ist und die Schuhe verbrannt sind und seine kleinen, kleinen Füße verbrannt sind. Sie sitzen noch auf meiner Netzhaut, und wenn die Netzhaut brennt, werden diese kleinen, lehmigen Absatzspuren an meiner Jacke, die mich so ärgerten, irgendwo noch bleiben. Sie sind Aufzeichnungen. Sie sind Tatsachen. Sie sind Zeugnisse und Berichte.
    Sie sind Leben.
    Und er zeigte auf den Pelikan, und der Pelikan gab einen unnachahmlichen Laut von sich, aber er machte ihn nach, Franz saß auf meinen Schultern und hörte sich genauso an wie der Pelikan jenseits des Kanals, und wir lachten, ich lachte, Magda lachte, und Franz lachte, obwohl er nicht wußte, warum, und dieses Lachen, gerade dieses kleine grundlose Lachen, hat mich in der Landschaft des Todes am Leben erhalten. Und ich klettere weiter nach oben auf der Liste.
    Eines gar nicht mehr fernen Tages werde ich ankommen, und dann wird es so sein wie bei Erwin. Erwin ist kein Jude. Ich glaube, er gehört zur Kategorie › lebensunwertes Leben ‹ , mit einer leichten Beeinträchtigung des Verstandes, die im Grunde mehr sozialen als genetischen Ursprungs ist. Er ist kaum zwanzig. Ich könnte sein Vater sein.
    Die Behandlung hat ihn wirr gemacht. Zunächst führten wir richtig kluge Gespräche; er verstand nichts von der Gegenwart, aber desto mehr von den ewigen Fragen. Er hatte sich viele Gedanken gemacht. Viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Nicht wie ich durchs Leben gehetzt. Jetzt ist nicht mehr viel von ihm übrig. Wenn ich ihn anspreche, ist er nicht da. Eine leere Hülle. Wo der Inhalt aus dem Kopf herausgelassen worden ist, sitzt eine unschuldige kleine Kompresse.
    Es kommt mir schlimmer vor, als wenn er tot wäre. Jetzt läuft er umher als ständige Erinnerung daran, was ziemlich bald mit uns allen geschehen wird.
    Wir sind nicht so viele.
    Aber ich bin noch immer recht viele. Ich bin Leo, ich bin Magda, ich bin Franz. Und ich bin Erwin.
    Ich bin

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