Tiefer Schmerz
auch Erwin.
Sechzehnter Februar 1945
Mein Sohn ging neben mir. Er hielt meine Hand, und wir gingen durch den Tiergarten. Es war naß und regnerisch, einer dieser fahlen, schmuddeligen Herbsttage, wie Berlin sie so oft zu bieten hat – fahl, schmuddelig und seltsam schön. Das Laub hatte zu fallen begonnen. Es mischte sich mit dem Schlamm in den Pfützen zu einem braungelben Brei. Kurz vor einer Pfütze blieb Franz plötzlich stehen. Er ließ meine Hand los, drehte sich um und umarmte mich.
Er reichte mir gerade bis über den Bauchnabel.
So standen wir eine Weile in dem feinen, kühlen Regen. Ich hielt ihn umfaßt. Ich hatte nichts zu sagen.
Dann verließ er mich.
Er ging zu der Pfütze mit dem Schlammbrei. Und während er ging, sank er in die Pfütze, Zentimeter um Zentimeter. Kein Wort sagte er, er ging nur und ging und sank’ und sank, bis nichts mehr da war. Sein schwarzer Scheitel verschwand mit einem schlürfenden Geräusch. Die Oberfläche war seltsam glatt.
Und ich, ich stand nur da und ließ ihn sinken. Ich rührte keinen Finger, um ihn zu retten. Keinen Finger.
Wir hätten fliehen können. Magda machte mir Vorhaltungen. › Deine Freunde fliehen, die Kollegen fliehen, alle fliehen. Aber wir, wir bleiben. Warum? Warum willst du warten, bis der Tod kommt? Denk wenigstens an Franz. ‹ Und ich sagte: › So schlimm kann es nicht werden. Wir leben im zwanzigsten Jahrhundert. Wir haben Autos, Flugzeuge, Mikroskope. Wir haben Demokratien und Heilmittel und Psychoanalyse und avantgardistische Kunst. Alles, was wir tun müssen, ist zu überwintern, uns zu verkriechen, bis der Sturm vorübergezogen ist. ‹
Ich bekam recht. Der Sturm zog vorüber. Als er vorüber war, war nichts mehr da. Wir waren mitgerissen worden. Alle.
Zurück blieb eine verwüstete Landschaft.
Ich habe meinen Sohn und meine Frau getötet. Meine Halsstarrigkeit hat sie getötet.
Laß alles in Schweigen versinken.
Laß mich sterben.
20
Er saß still im Bett. Etwas glitt im Dunkeln vorüber und zog ihn mit sich.
Vielleicht ein Eiswind.
Vielleicht die Erinnyen.
Er ließ die Finger über die vergilbten Blätter gleiten und betastete den Zwischenraum zwischen den gerade noch lesbaren Buchstaben. Dazwischen wuchs Eis. Zwischen den Buchstaben. Es würde nie schmelzen.
Paul Hjelm nahm die neu angeschaffte Lesebrille ab, legte sie auf den Nachttisch, löschte die Lampe und blickte in die Finsternis hinaus.
Ja, dachte er und tastete im Dunkeln nach Cillas warmem Körper. Seine Hand wand sich unter die Decke, landete zwischen ihren Schulterblättern und blieb dort liegen. Sie gab ein Brummen von sich. Eine Lebensäußerung.
Ja, so hätte es werden können. Ja, so hätte es auch für ihn aussehen können. Wenn er zur falschen Zeit geboren worden wäre und die falschen Eltern gehabt hätte. Dann hätten seine Gedanken sich in den gleichen Bahnen bewegen können wie Leonard Sheinkmans in jenen Februartagen 1945. Sprunghaft, ein wenig ungeordnet, aber mit großem und furchtbarem unterdrücktem Gefühl.
Leonard Sheinkman war davon überzeugt, daß er sterben würde. Er starb nicht. Einige Monate später ging der Krieg zu Ende. Er kam raus. Er war leer, unsagbar leer. Er stand vor der Wahl: Bleiben und untergehen oder weggehen und ein neues Leben beginnen. Ein anderer werden. Er wählte das zweite, es war möglich gewesen. Aber was war das für ein Ende, das er bekommen hatte? Fünfundfünfzig Jahre später an einem Baum hängend, ausgerechnet auf dem Jüdischen Friedhof. Wie war das möglich? Was war da geschehen?
Im Augenblick konnte Paul Hjelm aus dem Gelesenen keine rationalen Schlußfolgerungen ziehen. Er war zu bewegt. Es war ungefähr das, was er erwartet hatte – und doch auch wieder nicht. Ein anderer Ton. Von einer Traurigkeit über alle Trauer hinaus. Wie von jenseits des Grabes geschrieben.
Auf seinem Bauch lag das dicke deutsch-schwedische Lexikon. In der linken Hand hielt er die gelesenen Seiten, in der rechten die ungelesenen. Es war etwa die gleiche Menge Blätter auf beiden Seiten. Die Hälfte hatte er noch zu lesen. Er sah dem erwartungsvoll entgegen – und fürchtete sich davor.
Er fühlte sich völlig zerstört. Als habe jemand sein Inneres vollkommen durcheinandergebracht. Und so war es ja auch, in gewisser Weise.
Buchenwald, das größte Konzentrationslager in Nazi-Deutschland, lag sieben Kilometer vor den Toren Weimars in der alten DDR. Weimar war die Europäische Kulturhauptstadt des vergangenen Jahres
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