Tiefer Schmerz
sonderbar, die Zeit zu sehen. Sie ist vor dem Fenster. Meine Kameraden hier sind fern. Es sind keine Kameraden, es sind Unglücksbrüder, und Unglücksbrüder meidet man, weil sie einen selbst spiegeln. Sehe ich aus wie sie? Ich bin dreiunddreißig, und wahrscheinlich sehe ich aus wie eine halbverweste Leiche. Hier gibt es Männer, die viel jünger sind als ich, und sie sehen älter aus als das Bild, das ich von mir selbst habe. Ich hoffe, es behalten zu können, bis ich sterbe.
Und das sollte wohl möglich sein; es ist nicht mehr lang bis dahin.
Ich sehe die Zeit. Man könnte glauben, daß sie ein schwarzer Glockenturm ist, etwas Materielles, eine Uhr mit einem komplizierten mechanischen Uhrwerk, ein Turm, der konstruiert wurde, um dem Zahn der Zeit Paroli zu bieten. Jede Sekunde ist der Triumph des Turms, jede Sekunde dieses Alterns, das unaufhörlich voranschreitet, Jahrhundert um Jahrhundert, wird mit der mechanischen Präzision dieses Uhrwerks bemessen. Doch nicht das sehe ich. Was ich sehe, ist die Zeit.
Ich kann es nicht erklären, aber es muß sein. Warum sollte sonst dieser Stift in meiner Hand liegen, warum sollte sonst all diese Mühe die Zeit hier, genau hier abgelagert haben, auf dem Punkt, in dem der Stift aufs Papier trifft?
Was ich sehe, ist die Zeit. Da muß ich anfangen. Meine Zeit, und wie die Zeit sich veränderte, als ich Magda traf und mit ihr zu Hause durch Berlin wanderte. Unser Tiergarten … So frei und friedlich. Vorher war ich ein leidender Dichter gewesen. Ich litt an Einsamkeit. Jetzt wurde ich ein schaffender Dichter. Ein schaffender Mensch. Ich glaube, daß ich auch im wirklichen Leben etwas schuf. Ein Zuhause. Ein gemeinsames Leben. Ein kleines bißchen Glück. Sie las, was ich schrieb. Sie war meine beste Leserin.
Dann kam das Kind. Unser Sohn. Wunder lassen sich nicht beschreiben. Jede Bewegung war ein Wunder. Die weichen Bewegungen der kleinen, rundlichen Arme. Der Kopf, der sich drehte. Die dunklen Augen, deren Pupillen sich zusammenzogen und weiteten. Alles war Wunder.
Und dies war die Zeit.
Jetzt sehe ich sie wieder. Ist sie noch immer ein Wunder? Kann sie, wie sie so mechanisch oben in dem sechskantigen schwarzen Glockenturm tickt, kann sie mir noch immer den Frieden schenken, der dem Wunder zukommt? Jetzt kann sie es, einen kurzen, kurzen Augenblick, während der Stift sich über das Papier bewegt. Ich spüre die Eiseskälte sich auf alles legen, sobald ich den Stift hebe. Die Zwischenräume zwischen den Worten sind Eisblöcke. Die Wörter frieren daran fest.
Die Männer wandern mit ihren verwundeten Köpfen wie Leichen über den Gang, und ich denke: Seht auch ihr die Zeit, Menschen? Seid auch ihr in der Lage, die Zeit für einen kurzen, kurzen Augenblick zu sehen? Aber was für Methoden habt ihr?
Ich selbst habe keine.
Die Schrift vergeht jetzt. Das Eis breitet sich über die Buchstaben und läßt den Stift am Papier festkleben, wie eine Zunge am eiskalten Metall haften bleibt, und ich denke: Warum seid ihr gestorben und von mir gegangen? Warum bin nicht ich gestorben und von euch gegangen? Mein Gehirn wird zu Eis gefroren sein. Das ist mein einziger Trost und meine einzige kleine Spur von Widerstand.
Sterben.
Vierzehnter Februar 1945
Neuer Tag. Habe wieder die Liste gesehen. Der Eiswind blies vom Platz durchs Fenster herein, so daß sie durch die Gittertür geweht wurde und vor meinen Füßen liegen blieb.
Ich glaube, daß ein weiterer Zeh entfernt werden muß. Der linke mittlere Zeh ist so schwarz wie dieser sechskantige schwarze Kirchturm dort draußen, der mich mit seinem gleichgültigen Ticken verhöhnt. Ich höre ihn nicht, aber ich sehe ihn. Ich sehe ihn die ganze Zeit, ununterbrochen.
Die Liste lag da an meinem schwarz gewordenen Zeh, und ich sah, daß mein Name nach oben kletterte. Ich nahm das entgegen wie ein Geschenk. Ein Geschenk des Eiswindes. Bald wirst du den Glockenturm in dein Eis einhüllen und die Zeit, sogar die Zeit, wie sie sich durch die Mechanik der Uhr bewegt und in ironischen Jubelklängen hinausgeworfen wird, sogar die Zeit wird von deinem Eis umhüllt sein, Eiswind, und alle Zeit wird enden. Jeder von uns wird sich durch ein ganz zu Eis gefrorenes Dasein bewegen, ein Augenblick, gefroren zu Nichtigkeit, und alle Menschen werden für alle anderen Menschen vollkommen stillstehen und vollkommen steifgefroren sein, und es wird ebenso viele Welten geben wie Menschen, und alle Menschen werden in ihrer gänzlich eigenen
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