Tiefes Land
letzten Mal, als er wieder einmal das gemeinsame Abendessen wegen einer Ermittlung verpasst hatte, gab es keine Diskussion. Emilie hatte ihn nur angesehen, mit diesem seltsamen, undurchdringlichen Blick, wie ihn nur Frauen beherrschten. Dann hatte sie sich wortlos umgedreht und war schlafen gegangen.
Am nächsten Abend, als er erneut spät aus dem Präsidium zurückkehrte, war sie fort gewesen. Allerdings hatte sie ihm einen Zettel auf dem Küchentisch hinterlassen. Immerhin. Angemer wusste, auch ohne zu lesen, was darauf stand. Sie sei es satt, neben seinem Beruf nur die zweite Geige zu spielen. Er sei mehr mit seinen Fällen als mit ihr verheiratet.
Sie würde ihn dafür hassen. Die üblichen Gründe und Phrasen, wie er sie in den meisten seiner Mordermittlungen von den Tätern zu hören bekam. Nur, dass sie dieses Mal ihn betrafen. Ein seltsames Gefühl, musste er zugeben.
Mordgedanken wegen verletzter Eitelkeit oder ähnlichem Firlefanz, wie es manch anderem in so einer Situation erging, stiegen in ihm keine einzige Sekunde lang auf. Er hatte zu viele hässliche Dinge während seiner Arbeit gesehen und einige davon bescherten ihm in schwachen Nächten bis heute unangenehme Träume. Daher konnte er in seiner Freizeit ohne weiteres auf ein zusätzliches Blutbad verzichten. Allein die Vorstellung einer Schlagzeile, wie sie zwangsläufig in den Zeitungen ausgeschlachtet worden wäre: Ermittler der Mordkommission tötet seine eigene Ehefrau. Undenkbar. Eigentlich war es ihm schon länger klar gewesen, dass sie ihn irgendwann verlassen würde. Deshalb musste man sich schließlich nicht gleich zu unsinnigen Gewalttätigkeiten hinreißen lassen, fand der Kommissar.
Stattdessen hatte er den zu klein gewordenen, einstmals weißen Bademantel über seine überzähligen Pfunde geschwungen, sich vor den Fernseher gesetzt und die beiden Flaschen Oranje-Bitter geleert, eines hochprozentigen orange eingefärbten Genever, wie er üblicherweise zum Koniginnendag getrunken wurde. Zu Ehren des Königshauses. Dieses Mal feierte Angemer jedoch sein Selbstmitleid.
Als ihn der Anruf der Kollegen in der Nacht vor dem Tag der Befreiung erreicht hatte, war er wach gewesen. Genau genommen hatte er sich nicht einmal schlafen gelegt. Sein Kater hielt sich hartnäckig seit gut einer halben Woche im unerträglichen Bereich und die Kopfschmerzen ... Er dachte besser gar nicht erst darüber nach.
Also hatte er sich übellaunig ins Auto gesetzt, unrasiert und mit einer Fahne, die einen selbst vom Weitem betrunken machen konnte, und war zum Tatort gefahren.
Das Opfer, ein zwanzigjähriger Student der Amsterdamer Universität, Adrian Frisberg, studierte im vierten Semester Sozialwissenschaften, hatte sich mitten auf der Tanzfläche einen gezielten Messerstich in die Rippen eingefangen. Ohne dass es auch nur einer der Umstehenden mitbekommen hatte. Es wunderte Angemer deshalb nicht sonderlich, dass niemand den Täter beschreiben konnte, geschweige denn den genauen Hergang der Tat. Irgendwie hatte er heute mit so viel Glück sowieso nicht gerechnet.
Einzig zwei Personen vermochten etwas zu der Tat sagen. Die Bedienung an der Bar, Sally Dideriks, die immer noch mit ihrer Fassung kämpfte und welche die Letzte gewesen war, die mit dem Opfer gesprochen hatte. Sie hatte jedoch ebenso wenig gesehen, wie die anderen Gäste des Clubs.
Trotzdem schaffte sie es, Angemer einen entscheidenden Hinweis zu geben, bevor sie erneut von einem weiteren endlosen Weinkrampf geschüttelt wurde. Dieser betraf die zweite Person, mit der Angemer unbedingt zu reden hatte. Marley Corrales, ein polizeibekannter Kleinkrimineller und Drogendealer, mit welchen das Opfer offensichtlich verabredet gewesen war.
Angemer zeigte sich nicht sonderlich überrascht, Corrales nicht unter den Zeugen zu finden. Er seufzte und gab dabei einen beinahe ergebenen Ton von sich. Die Kopfschmerzen wummerten trotz der beiden Schmerztabletten, die er auf dem Hinweg eingenommen hatte, in unverminderter Heftigkeit gegen seine Schädeldecke. Mit der Linken fuhr er sich fahrig von der schweißnassen Stirn bis über die Augen herab. Was hatte er eigentlich anderes erwartet, als in dieser beschissenen Nacht auch noch einem Drogendealer hinterher laufen zu müssen. Corrales konnte sich schon jetzt auf etwas gefasst machen, wenn er ihn in die Finger bekam. Und das würde er. Angemer hatte diesbezüglich überhaupt keine Zweifel.
09:33 Uhr, 4. Mai, südliches Industriegebiet, Amsterdam
Das erste
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