Tiefflug: Der vierte Fall für Kommissar Jung (German Edition)
Praktische. Er trug seine Tasche ins zweite Schlafzimmer. Zumindest hatte er hier ein komfortables Bad ganz für sich allein.
Als er die Bettdecke über sich gezogen hatte, kam er sich vor wie ein Trottel. War er wirklich ein Trottel? Für einen Moment war er versucht aufzustehen, sich wieder anzuziehen und zu Tiny in den Club zu gehen. Aber dann kapitulierte er doch vor seiner Bequemlichkeit und seinem Widerwillen gegen laute Musik und dröhnende Unterhaltung.
Der Abgang
Jung schlief unruhig und wachte früh auf. Der Traum, aus dem er aufgetaucht war, stand ihm noch lebhaft vor Augen. Er passte überhaupt nicht zu dem Gemütszustand, in den sein Selbstmitleid ihn gefangen hielt. Er war im Traum seiner ersten Liebe begegnet und hatte mit ihr wilden Sex gehabt. In Wirklichkeit hatte er nie etwas in dieser Art mit ihr gehabt, nicht einmal eine Unterart von Sex. Über ein paar schüchterne Berührungen war ihre Beziehung nie hinausgekommen. Er lachte über die Ironie, die das Wort Beziehung in ihm auslöste.
Seine Uhr auf dem Nachtschrank zeigte kurz nach fünf Uhr. Die Sonne ging auf und füllte das Zimmer mit dem ersten Tageslicht. Es munterte ihn auf. Er verließ das Bett und machte Morgentoilette. Danach stieg er in eine helle Sommerhose, zog einen leichten Pullover über und begab sich auf die Terrasse.
Das Panorama, das sich vor seinen Augen ausbreitete, berauschte ihn. Er konnte sich daran nicht sattsehen. Es war völlig windstill. Nicht der leiseste Hauch kräuselte die See oder bewegte ein Blatt an den Zitrusbäumen jenseits des Hanges. Über Meer und Land lag ein feiner Dunst, der einen blassen, rötlichen Schimmer über die Küste warf. Ein zarter Duft erfüllte die Luft. Jung roch feuchtes Gras, Salzwasser, Zitronen, Apfelsinen, dazwischen wehte ihm ein Hauch von Jasmin, Hibiskus und Rosmarin in die Nase. Die Ruhe war von einer Art, als gäbe es im ganzen Universum absolut nichts, was sich jemals störend bemerkbar machen könnte.
Jung atmete tief ein, streckte sich und begrüßte den Tag wie einen lieben Verwandten, den er eine Ewigkeit nicht gesehen hatte. Dabei kam ihm der Sekt in den Sinn, den Maria zur Begrüßung in den Kühlschrank gestellt hatte. Es war ein Spitzensekt, wie er wusste, und jetzt war der perfekte Zeitpunkt für einen Genuss der ganz besonderen Art gekommen. Er holte die Flasche aus dem Kühlschrank, fand zu seiner Freude eine Sekttulpe und öffnete die Flasche. Der Anblick des dicken Naturkorkens und der erste Duft, der ihm aus der Flasche entgegenstieg, zauberten einen verführerischen Vorgeschmack auf seine ausgeschlafene Zunge. Er schenkte sich das Glas sorgfältig ein, stellte die Flasche zurück und ging wieder auf die Terrasse. Er wusste später nicht, wie lange er da gesessen hatte. Aber er erinnerte sich oft daran, dass er sich selten so gefreut hatte zu leben wie an diesem frühen Morgen.
Er schenkte sich noch einmal nach und spazierte, das Glas in der Hand, den Hang hinunter zu den Klippen. Er war barfuß. Der Tau auf dem harten Gras war kalt. Die aufgehende Sonne wärmte seinen Rücken und hauchte ihm Lebensmut ein. Als er den Steilhang erreicht hatte, setzte er sich an den Klippenrand und schaute aufs Meer. Er schaute selbstvergessen, bis sein Glas leer war. Er fühlte sich wohl. In einem Anfall plötzlichen Übermuts warf er das Glas zwischen die kantigen Felsen zu seinen Füßen. Das Splittern zerschnitt die Stille. Er erschrak. Dann lächelte er. Jung erlebte einen Moment ungetrübten Geistes und seltener Klarheit. Er gab sich diesem Genuss hin, solange er anhielt, bedenkenlos und glücklich.
Schließlich wandte er sich vom Anblick des Ozeans ab und ging zurück zum Haus. Das Elefantengras schnitt ihm in die Zehenlücken. Er stelzte wie ein Storch den Hang hinauf und fiel erst auf der Terrasse erleichtert in seinen normalen Gang zurück. In der Küche sah er einen Bogen Papier auf dem Tisch. Er nahm ihn auf und las:
›Hallo, Tomas!
Ich habe Urlaub und Anspruch auf Erholung. Ich will Spaß und keinen Mann, der schon vor dem Frühstück Sekt trinkt. Ich will keine Kippen auf der Terrasse, kein Ungeheuer in meinem Pool und keine BILD-Zeitung auf dem Küchentisch.
Ich mache jetzt Urlaub unter Freunden. Du weißt, wo du mich findest.
Svenja‹
Jung erstarrte. Sie musste ihn beobachtet haben. Er brauchte Zeit, um wieder denken zu können. Sollte er ihr hinterherfahren und sie zurückholen? Wie war sie überhaupt mit ihrem vermaledeiten Koffer weggekommen?
Weitere Kostenlose Bücher