Tiefflug: Der vierte Fall für Kommissar Jung (German Edition)
die in Deutschland. Als er sich an den Portugiesen erinnerte, schoss ihm ein frischer Gedanke durch den Kopf. Er verwarf ihn rasch. Dennoch machte er ihn ruhiger und zauberte ein Grinsen auf sein Gesicht.
In vino veritas
Jung stierte vor sich hin. Er würde jetzt nichts tun wollen. Zur Ruhe kommen, das war das Gebot der Stunde. Am besten schaffte er das, wenn er sich dem Nächstliegenden zuwandte, den Erfordernissen des Alltags: also zuerst einmal essen und trinken.
Der Kühlschrank war noch gut gefüllt. Vielleicht sollte er irgendwann den Clube Carvoeiro aufsuchen und das Angebot an Restaurants und Einkaufsmöglichkeiten erkunden. Er konnte das zu Fuß erledigen. Dabei hatte er Gelegenheit, seine Umgebung näher in Augenschein zu nehmen. Außerdem kam morgen schon Maria ins Haus, die Zugehfrau. Er könnte sie, wenn er wollte, fragen und ihr den Einkauf übertragen, wie Tiny ihnen versichert hatte. Die Möglichkeiten breiteten sich in Hülle und Fülle vor Jung aus.
Seine Überlegungen beruhigten ihn.
Er spürte jetzt die höher stehende Sonne auf seinem Rücken. Sie heizte auch die Terrasse auf. Die Strahlen aus dem Himmel und die Reflexion an den hellen Steinplatten blendeten und zwangen ihn, die Hand schützend über die Augen zu legen.
Er fragte sich, wo er einen Sonnenschirm finden könnte, und machte sich auf die Suche danach. Ein Anbau schirmte die Terrasse gegen die Zufahrt von der Straße ab. Über eine Tür ähnlich der Haustür, nur kleiner, kam er von der Terrasse in einen komfortablen Geräteschuppen, wo er neben Werkzeugen und Gartengeräten auch einen Landhausschirm mit Fuß fand. Er schaffte ihn hinaus auf die Terrasse, spannte ihn auf und bugsierte seinen Gartenstuhl darunter. Es gefiel ihm, aus dem Schatten auf das Meer zu blicken. Sein Wohlbefinden steigerte sich von Minute zu Minute. Er sehnte sich nach einer ersten Urlaubszigarre.
Wieder auf den Füßen, setzte er seinen Erkundungsgang durchs Haus fort. Durch den Geräteraum betrat er den Hauswirtschaftsraum mit Waschmaschine, Trockner, Tiefkühltruhe und Weinschrank. Dahinter schloss sich die Küche an. Von der Küche kam er in die Diele und den sich anschließenden offenen Wohnraum, der mehr einem großen Salon glich. Zur Seeseite öffnete sich der Blick durch eine Glaswand. Vor der Kulisse der Küste und des Ozeans lag die geräumige Terrasse im Schatten des riesigen Sonnenschirms. Man hätte schon blind sein müssen, um von dem Anblick nicht beeindruckt zu sein.
Von der Diele zweigte der Schlaftrakt ab, der über ein paar Stufen hinunter in den Hang gebaut war. Das Haus war geräumig, von reduzierter Eleganz, aber perfekter Funktionalität, das Mobiliar modern und kühl. Neben ein paar üppigen Palmen und Zimmerlinden fiel die übrige Dekoration zurückhaltend aus. Sie bestand, abgesehen von einem Foto der Urbanisation Carvoeiro aus der Vogelperspektive, nur aus wenigen Pinselstrichgrafiken von Picasso. Jung hätte Picasso in Portugal nicht unbedingt erwartet, denn er hatte gelegentlich von der Abneigung der zurückhaltenden Portugiesen gegen ihre umtriebigen Nachbarn auf der Iberischen Halbinsel gehört. Aber vielleicht war der Besitzer gar nicht Portugiese, sondern Deutscher. Tiny lebte schließlich auch hier.
Er suchte seine Rauchutensilien zusammen und begab sich wieder auf den Weg unter den Sonnenschirm. Im Wohnzimmer fiel ihm ein Flachbildfernseher auf, der auf einer breiten Konsole im Schatten der Zimmerwand stand. Aus Neugierde schaltete er ihn an. Die Kanäle flossen über von den neuesten Nachrichten im Entführungsfall der kleinen Engländerin. Selbst in den Musiksendern VIVA und MTV waren die Spots und Clips mit laufenden Schriftbändern unterlegt, die über den neuesten Stand der Ermittlungen informierten. Jung schaltete ab. Meistens verrannte sich diese Art von Berichterstattung in abwegige Gefilde. In der Folge bekam sie eine Eigendynamik, die nicht mehr aufzuhalten war. Zum Ende war nicht mehr klar zu unterscheiden, was wichtig oder unwichtig und überhaupt der Ausgangspunkt der ganzen Aufregung gewesen war. Jung schüttelte den Kopf und fragte sich wiederholt, wer diesen Prozess in Gang gesetzt hatte. Wer konnte ein Interesse daran haben? Die Medien selbstverständlich.
Er drehte den Fernseher ab und widmete sich seiner Zigarre. Er guillotinierte das Mundstück und feuchtete es mit Zunge und Lippen an. Er entzündete sie sorgfältig mit einem Filibuster aus Sandelholz und setzte sich unter den Schirm auf die
Weitere Kostenlose Bücher