Tiefflug: Der vierte Fall für Kommissar Jung (German Edition)
Terrasse. Der würzige Duft stieg ihm angenehm in die Nase. Er verfolgte, wie der Rauch anmutig über die Terrasse schwebte und sich in dem leichten Zug auflöste. Das hatte schon eher etwas von Urlaub an sich, dachte er, und lehnte sich, seine Urlaubslektüre greifend, in den Sitz zurück.
Er bevorzugte im Allgemeinen Bücher, die ihn nicht aufregten oder belasteten. Von ein paar wenigen Krimi-Autoren abgesehen, die er ganz besonders schätzte – Patricia Highsmith, Sjöwall/Walhöö, Hennig Mankell und Raymond Chandler waren hier an erster Stelle zu nennen –, las er gern esoterische Texte. Er hatte das höhnische Gelächter seines pensionierten Kollegen Boll noch im Ohr, als er ihm bei Gelegenheit von seiner Vorliebe erzählt hatte. Aber neben vielen Texten aus dieser Ecke, die er teils abwegig, teils gefährlich, teils unfreiwillig komisch fand, gab es auch – seiner Meinung nach – Kleinodien von ganz ungewöhnlichem Wert. Im Übrigen wollte er auch die Bibel durchaus dazu zählen. Und die war ein All-Time-Bestseller, über Jahrtausende erprobt und über jeden ernsten Zweifel erhaben. Mit diesem Argument musste er sich gelegentlich von seiner exzentrischen Vorliebe selbst überzeugen.
Für diesen Urlaub hatte er sich mit ›Zen im Alltag‹ [1] eingedeckt und fing an, darin zu lesen. Als er das Inhaltsverzeichnis studierte, fiel ihm ein Kapitel mit dem Titel ›Das Feuer der Aufmerksamkeit‹ auf. Er wusste nicht, warum, aber das Thema weckte seine eigene Aufmerksamkeit, und er schlug das Buch an der entsprechenden Stelle auf. Er las das Kapitel bis zu Ende und dann noch einmal. Danach legte er das Buch beiseite und fragte sich, was er von dem Text behalten hatte. Kurze Zeit später nahm er das Buch wieder auf und las das Kapitel ein drittes Mal, sehr langsam und sorgfältig, von Anfang bis Ende. Schließlich begann er, über folgende Passage zu grübeln:
Wenn etwas in unserem Leben schiefgeht, was versuchen wir dann? Wir setzen uns hin und möchten unbedingt herausfinden, was los ist. Wir grübeln darüber nach, wir spekulieren. Das funktioniert nicht. Es geht darum, unsere geistigen Verwirrungen zu erkennen, die nicht das wahre Denken sind. Wir beobachten unsere emotionalen Gedanken. ›Ach, ich kann sie einfach nicht ertragen. Sie ist ein schrecklicher Mensch.‹ Wir nehmen wahr, wir nehmen wahr, wir nehmen wahr. Erst wenn Körper und Geist zur Ruhe gekommen sind und das Feuer heller brennt, kann wirkliches Denken entstehen und die Fähigkeit, sinnvolle Entscheidungen zu treffen. Auch der schöpferische Funke jeder Art entsteht aus diesem Feuer.
Jung legte das Buch aus der Hand. Ja, das gefiel ihm gut. Er dachte mit genießerischem Wohlwollen daran, Körper und Geist zur Ruhe kommen zu lassen, selbst wenn ihn das an seine Neigung zur Bequemlichkeit erinnerte, die ihn öfter piesackte, als ihm lieb war. Er sagte sich, dass er die Anweisung des Textes einfach befolgen sollte. Er legte seine Zigarre beiseite, schwenkte die Rückenlehne seines Gartenstuhls in die Liegeposition und schloss die Augen. Es verging nicht viel Zeit, bis die Zigarre erloschen und er fest eingeschlafen war.
*
Tinys lautes Prusten im Swimmingpool weckte Jung auf. Er musste lange geschlafen haben, denn die Sonne stand schon tief über den Hügeln im Westen. Er erinnerte sich an den frühen Morgen und den Disput, den er mit Tiny ausgefochten hatte. Die versöhnliche Stimmung, die der Schlaf in ihm hinterlassen hatte, kam seiner Absicht entgegen, ihre Nachbarschaft so umzumodeln, dass auch Svenja damit leben konnte. Er winkte Tiny freundlich zu. Auch ein noch gröberer Geist als Tiny musste seinen Wink als Einladung aufgefasst haben. Tiny stemmte sich aus dem Becken, stellte sich auf die Füße und kam, in seinen Bademantel gehüllt und seine Flipflops der Größe 46 plus an den Füßen, langsam auf Jungs Terrasse geschlendert.
»Darf ich?«, fragte er unsicher.
»Bitte. Schwimmst du jeden Tag, Tiny?«
Tiny plumpste stöhnend in einen Gartenstuhl und steckte sich eine Zigarette an. Er sah Jung mit skeptischer Aufmerksamkeit in die Augen.
»Ja, ich muss. Mein Rücken, verstehst du?« Tiny stieß hörbar den Rauch aus der Lunge.
»Hast du Rückenschmerzen?«
»Das ist der Preis dafür, dass du in diesen schnellen Mühlen durch die Gegend fliegst und die Freiheit des Westens gegen die Bösewichter aus dem Osten verteidigst.« Seine Stimme sollte ironisch-amüsiert klingen, konnte aber sein Selbstmitleid nicht verbergen.
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