Tiefflug: Der vierte Fall für Kommissar Jung (German Edition)
verflüchtigte sich so schnell, wie sie gekommen war.
»Von wem dann?«
»Von Hugh Johnson, dem Weinpapst«, lachte sie.
»Na ja, der muss es ja wissen«, seufzte Jung. »Glauben wir ihm einfach mal.«
Sie tranken ihren Kaffee und Jung dazu den Brandy. Ihr Gespräch plätscherte dahin. Die Entführung wurde nicht mehr erwähnt. Als die Sonne sich auf das Meer gesenkt hatte, bezahlte Jung die Rechnung. Der korpulente Chef fragte, ob er den Fisch auf die Rechnung setzen dürfe. Jung bejahte enthusiastisch und machte ihm und seiner Küchencrew höflich Komplimente.
Amalia fuhr sie auf der Autobahn in Richtung Westen, Portimao entgegen. Sie kannte sich in Carvoeiro aus und wusste, wie sie zu fahren hatte. Jung genoss es, sich ihrer kundigen Führung anzuvertrauen und kein erklärendes Wort sagen zu müssen.
»Vielen Dank fürs Bringen und für den netten Abend«, bedankte sich Jung, als sie vor seinem Haus angehalten hatte. »Ihre Gesellschaft war mir ein großes Vergnügen, Senhora Amalia.«
»Danke gleichfalls, auch für die Einladung. Soll ich Ihrer Frau etwas ausrichten?«
»Wenn Sie ihr bitte sagen wollen, dass es nicht mehr lange dauern wird. Das wäre nett von Ihnen.«
»Mache ich gern. Boa noite, Senhor Jung.«
»Boa noite, Senhora Amalia.«
Er stieg aus und schloss die Wagentür. Wie schön, dachte er, dass es Frauen wie sie gab, intelligent und attraktiv, Frauen, die sich nicht dauernd in den Haaren herumfummeln mussten, was nur Frauen taten, wie er zu wissen glaubte, die sich anstrengten, sexy rüberzukommen, und sonst nichts anderes im Kopf hatten. Er winkte ihr freundlich nach, als sie in den schmalen Weg einbog, zurück nach Lagoa und Portimao.
Als Jung die Haustür aufschloss, registrierte er aus den Augenwinkeln, dass Tinys Haus ohne Licht war. Sein Auto stand auf der Auffahrt. Eine drückende Stille lag über dem Anwesen.
Nachdem er die Haustür verriegelt und das Licht gelöscht hatte, ging Jung gleich zu Bett. Er war müde. Den Abend an der Seite Amalias hatte er genossen, obwohl sie ein so ernstes Thema gestreift hatten. Erst jetzt wurde Jung bewusst, welch tiefe Bedeutung Amalias Erzählung für den Entführungsfall haben konnte. In ihm regten sich leise Zweifel, ob er die Sicht ihrer Schwester auf die englische Familie als unumstößliche Tatsache akzeptieren sollte. Aber nachdem er Maria, Rosa und Amalia kennengelernt hatte, neigte er dazu, ihren Erzählungen und Urteilen ein Gewicht beizumessen, das er den Erzählungen anderer nicht gleich zugebilligt hätte. Er fand sie gefühlvoll und mit einem überzeugenden Realitätssinn ausgestattet und von gesundem Selbstbewusstsein, das sich nicht beweisen, sich nichts einbilden musste und das sich ihm lebensbejahend, aufgeweckt und hellsichtig präsentiert hatte.
Und was das Erscheinungsbild der Eltern und den Charakter des kleinen Mädchens anbelangte – wenn man in diesen ersten Lebensjahren von Charakter überhaupt sprechen konnte –, so hatte ihm Tiny im Moment rückhaltloser Ehrlichkeit an der Bar einen deutlichen Hinweis gegeben, was Menschen bewegen mochte, die wahren Antriebe ihres Tuns hinter ihrem äußeren Getue verschwinden zu lassen.
Als Jung sich in das Kopfkissen zurücklehnte, fragte er sich, welchen konkreten Schritt er nun tun sollte. Er starrte an die weiße Zimmerdecke. Er gestand sich ein, dass er mit seinem Nachbarn eine Art Beziehung hatte, ob er nun wollte oder nicht und ob es ihm gefiel oder nicht. Sein Unbehagen an Tiny und seinen Geheimnissen warf die Frage auf, was er tun könne, um das Unbehagen aus der Welt zu schaffen. Solange es bestand, brauchte er Svenja gar nicht vorzuschlagen zurückzukommen.
Und wie so oft, lag die Lösung ganz nahe, sie lag sozusagen vor ihm auf der Bettdecke. Nur seine Sehnsucht nach Urlaub und die Traumbilder von Ruhe und Harmonie verstellten ihm den Blick auf das Naheliegende. Er wusste jetzt, was zu tun war.
Über seinen Gedanken hatte sich seine innere Erregung gelegt. Er erinnerte sich noch einmal an seine Urlaubslektüre und betete sich die Handlungsanweisungen laut vor. Bald danach sank er in den Schlaf.
Das Arrangement
Jung wachte früh auf und hatte tief und fest geschlafen. Er hatte auch lebhaft geträumt, konnte sich aber nach dem Aufstehen nicht mehr an den Inhalt erinnern. Als er im Bad vor dem Spiegel stand und sich betrachtete, hielt sich sein Erschrecken diesmal in Grenzen und er blieb ruhig. Er fragte sich, ob er sich schon so schnell an den neuen
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