Tiefflug: Der vierte Fall für Kommissar Jung (German Edition)
Anblick gewöhnt hatte oder ob ihn neulich nur sein unrasiertes Kinn und die ungepflegten Haare genarrt hatten. Er sollte schon lange zum Friseur gegangen sein, fiel ihm auf. Er wich weiteren Grübeleien aus, begab sich in die Küche und bereitete sich ein Frühstück aus den Köstlichkeiten, die Maria besorgt hatte. Dazu brühte er sich einen Pott Kaffee.
Er schlenderte auf die Terrasse. Das Wetter war wie am Tag nach ihrer Ankunft. Die Sonne stand an einem wolkenlosen Himmel, über der Küste lag ein leichter Dunst. Als er sich in den Stuhl unter den Schirm setzte, empfing ihn das Duftbouquet aus Ozean und Garten. Er ließ den herrlichen Anblick einige Zeit auf sich wirken. Es würde alles gut werden, dachte er. Als er sein Frühstück beendet hatte, war er bereit, den Gang zu Tiny nicht mehr länger aufzuschieben. Er holte die Papiere aus seinem Schlafzimmer und ging durch den Garten zu ihm hinüber.
Die Terrasse war verwaist und die Tür verriegelt. Er ging ums Haus herum und klingelte an der Vordertür. Drinnen rumorte es. Schließlich öffnete Tiny. Er stand im Bademantel in der Haustür und sah aus, als hätte er die Nacht bei Bier und Whiskey verbracht.
»Hallo, Herr Nachbar. Was gibt’s denn so früh am Morgen?«, begrüßte er Jung schlaftrunken.
»Hallo, Tiny. Darf ich reinkommen?«
»Herein, wenn’s kein Schneider ist.«
Jung fiel dazu nichts ein. Er hüllte sich in Schweigen. Tiny machte Platz und er ging an ihm vorbei ins Haus.
»Wir gehen auf die Terrasse, okay?« Tiny fuchtelte fahrig mit der Hand in Richtung Hof. Sie durchquerten die Diele und setzten sich in die Sitznische. Das Wasser aus dem Löwenmaul plätscherte beruhigend in das Becken.
»Was hast du auf dem Herzen?«, begann Tiny sorglos.
Jung hatte sich vorgenommen, nicht viele Worte zu machen. Er verzichtete auf eine Einleitung und reichte Tiny die Dokumente stumm über den Tisch. Tiny nahm sie auf und überflog sie. Er legte sie beiseite, angelte ein Päckchen Zigaretten aus der Bademanteltasche, steckte sich eine zwischen die Lippen und entzündete sie mit seinem Zippo. Vor dem aufsteigenden Rauch kniff er die Augen zusammen und bemühte sich um ein teilnahmsloses Gesicht.
»Und? Woher hast du das?«, fragte er betont ruhig.
»Von Maria. Sie hat sie bei dir gefunden. Ich soll sie dir zurückgeben.«
»Und warum tut sie das nicht selbst?«
»Weil sie nicht lesen kann und Angst um ihren Job hat.«
Tiny schwieg angestrengt. Er sah zu Jung hinüber und zog an seiner Zigarette. Jung hielt seinem Blick ruhig stand, bewegte sich nicht und schwieg beharrlich. Die Sprachlosigkeit dauerte an, die Spannung zwischen ihnen wuchs. Jungs geschultes Auge registrierte, wie Tiny mit sich kämpfte, obwohl er ein erstaunliches Talent zeigte, sich das nicht anmerken zu lassen.
Jung brach das Schweigen als Erster: »Der Mann, der den Wagen gemietet hat, ist auch der rechtmäßige Besitzer des teuren Weins in deinem Keller. Er ist auch der Vater des entführten Mädchens aus England.«
Jung sah Tiny weiter unverwandt und ruhig in die Augen. Der sog den Zigarettenrauch tief in die Lungen und stieß ihn zittrig durch die Nase wieder aus. Die Spannung wuchs. Irgendwann schien Tiny mit seinen Kräften am Ende zu sein.
»Haben sie dich geschickt, Herr Kriminaloberrat?«
Jung sperrte den Mund auf. Es kostete ihn alle Kraft, den Mund wieder zu schließen und nicht zu fragen, woher Tiny wusste, was er von Beruf war. Er nahm sich zusammen und sagte: »Nein.«
»Scheiße!«, brach es aus Tiny heraus. »Wenn ich den Wetterfrosch noch am gleichen Tag erreicht hätte, wäre das alles nicht passiert.«
»Was wäre nicht passiert, Tiny?«, unterbrach Jung ihn schnell.
»Ich hätte früher gewusst, was du machst, und hätte dich nicht auch noch auf ein Glas Wein eingeladen.«
»Warum hast du mir keinen reinen Wein eingeschenkt, Tiny? Du bist doch kein Kidnapper, oder?«
»So’n Quatsch. Was weißt du schon von dem ganzen Scheiß? Du hast doch überhaupt keine Ahnung.«
»Ich weiß, dass du da irgendwie drinhängst, Tiny. Dazu brauche ich keine Ahnungen. Aber du brauchst Hilfe, scheint mir.«
»Das geht dich einen Scheißdreck an!«, schimpfte Tiny störrisch.
»Das war einmal«, sagte Jung einfach. »Jetzt nicht mehr.« Er schwieg ganz bewusst und ließ seine Worte wirken.
»Was willst du tun?«, fragte Tiny besorgt.
»Das steht in den Sternen, jedenfalls, solange ich nicht weiß, was wirklich passiert ist.«
»Ist das etwa eine Drohung?«
»Mit
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