Tiefschlag
der nicht angehalten hatte. Der Mann hatte Fahrerflucht begangen. Wahrscheinlich ein Betrunkener.
Celia kam ihnen entgegen, kaum daß sie das Büro betraten. «Tut mir leid, Sam», sagte sie. «Eine Dame erwartet Sie bereits.» Sie deutete hinter sich auf ihr eigenes Büro. «Mrs. Bridge hat zwar keinen Termin, aber ich denke, Sie sollten trotzdem mit ihr sprechen.»
Sam machte ein resigniertes Gesicht. «Lassen Sie mir noch ein paar Minuten», sagte er, zog seine Jacke aus und hängte sie an einen Haken hinter der Tür. Geordie legte Barney in seinen Korb und setzte sich mit Sam an den Schreibtisch. Celia führte Mrs. Bridge herein und bot ihr den für Klienten vorgesehenen Stuhl an.
Sie war eine kleine, schwarze Frau mit großen, traurigen Augen. Anfang Dreißig, vermutete Sam. Sie trug flache, weiche Schuhe, und ihre Strumpfhose hatte Laufmaschen. Sie hatte ein rundliches, freundlich lächelndes Gesicht. Sie lächelte nicht wirklich, aber ihr Gesicht vermittelte genau diesen Eindruck. Noch etwas an ihrer Haltung widersprach der Wirkung des Lächelns: Ein tiefer Ernst überbrückte die Distanz zwischen ihr und Sam und bewirkte, daß Sam ebenfalls nicht lächelte, nicht einmal andeutungsweise.
«Sie werden mir Ihr Problem erläutern müssen, Mrs. Bridge. Bevor ich Ihre Geschichte nicht gehört habe, weiß ich nicht, ob ich Ihnen helfen kann.»
«Es geht um meinen Jungen», sagte sie. «Jemand hat ihn umgebracht.» Ihre Stimme war überraschend. Sie hatte einen schrillen Unterton, von dem Sam vermutete, daß er normalerweise nicht vorhanden war. Die Frau stand unter Schock. Sie fuhr fort. «Andrew ist letzten Monat dreizehn geworden.» Sie schaute flüchtig zu Geordie hinüber, sah dann wieder Sam an. «Angeblich hatte er hier in York einen Freund. Wir wohnen in Leeds, verstehen Sie, in Chapeltown. Irgendein Junge aus der Schule, aber ich glaube, das war eine Lüge. Jedenfalls, anfangs ist er zwei-, dreimal wöchentlich hergekommen. Dann ist er verschwunden.
Wir sind in Leeds zur Polizei gegangen, aber die haben nicht den Eindruck gemacht, als wollten sie uns helfen. Er war nur ein Kind, aber trotzdem haben die’s nicht ernst genommen. Nachdem er sechs Wochen fort war, gestern...» Sie stockte, hob die rechte Hand an den Haaransatz und massierte sanft ihre Stirn. «Nein, es war vorgestern, obwohl es mir schon wie eine Ewigkeit vorkommt. Als wär’s schon so lange her. Dienstag. Da hat er mich angerufen, um vier Uhr nachmittags. , hat er gesagt. Einfach so: Er hat gesagt, er befände sich auf der Micklegate, unmittelbar neben dem Stadttor, und da würde er auch auf mich warten. Er hatte nicht genug Geld fürs Telefon, und wir wurden unterbrochen.
Ich hab mir sofort ein Taxi genommen. Der Fahrer wußte, wo die Micklegate ist, und wir sind direkt dorthin gefahren. Am Stadttor hat er mich abgesetzt, und ich habe eine Stunde lang dort gewartet. Dann bin ich zwei Stunden in der Gegend herumgegangen. Aber weit und breit keine Spur von Andrew. Ich bin hier in York zur Polizei gegangen, aber die waren noch weniger hilfsbereit als die in Leeds. Die diskriminieren uns wegen unserer Hautfarbe. Es tut mir leid, falls Sie das anders sehen, Mr. Turner, aber es ist trotzdem die Wahrheit. Schließlich bin ich mit dem Zug wieder nach Hause gefahren.»
Mrs. Bridge sprach nicht weiter. Sie vergrub das Gesicht in den Händen und ließ den Kopf vielleicht eine Minute hängen.
Dann kramte sie in der Tasche ihres Mantels und zog ein Taschentuch heraus, um sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen.
Geordie erhob sich vom Schreibtisch und verschwand leise in Celias Zimmer. Einen Moment später kehrte er mit Celia im Schlepptau zurück. Celia nahm die Frau in die Arme und bot ihr eine Tasse Tee an. Mrs. Bridge sagte, eine Tasse Tee würde sie sehr gern annehmen. «Sie müssen ein wenig Geduld mit mir haben», sagte sie zu allen. «Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan. Und ich habe die Leiche meines Jungen gesehen.» Dann senkte sie wieder den Kopf und ließ die Arme schlaff herunterhängen.
Celia verschwand, um den Tee zu machen, und nach einer weiteren Minute hatte sich Mrs. Bridge wieder soweit in der Gewalt, daß sie ihre Geschichte fortsetzen konnte.
«Ein Polizeibeamter ist letzte Nacht zu uns gekommen», sagte sie. «Ein Polizist und eine Frau, und die haben mir dann gesagt, daß sie in York eine Leiche gefunden hätten, von der sie glaubten, es könnte vielleicht Andrew sein. Sie
Weitere Kostenlose Bücher