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Tiefschlag

Tiefschlag

Titel: Tiefschlag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Baker
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würde, wenn sie fuhr. Sie kramte eine große Tüte Erdnüsse heraus, riß sie auf und legte sie auf ihre Knie. «Ich bin auf Diät», sagte sie. Sie verließ die Stadt.
    «Es war schon irgendwie ein Schock, dich so zu sehen», sagte er. «Mit diesem Apfelausstecher.»
    Marie schüttelte den Kopf. «Ja, für mich auch, Sam. Es war das erste Mal, daß ich erwischt wurde.»
    Er ließ einige Sekunden verstreichen, versuchte die richtige Stelle zu finden, die richtige Art und Weise, die Fragen zu formulieren. «Seit wann?» fragte er.
    «Ich habe schon an mir rumgeschnippelt, bevor ich Gus kennenlernte», sagte sie. «Aber solange wir zusammenlebten, habe ich es nicht mehr getan. Ich dachte, ich würde es nie wieder tun und es hätte etwas damit zu tun, jung zu sein. Gus gegenüber habe ich nie etwas davon erwähnt, hab’s auch sonst keinem Menschen erzählt. Es war so was wie eine geheime Schande, etwas, das ich eben durchmachen mußte, als ich noch ein junges Mädchen war. Solange Gus lebte, kam ich kein einziges Mal in Versuchung, es zu tun, hab überhaupt nicht mehr daran gedacht. Aber nachdem er ermordet wurde, fing’s wieder an. Zum ersten Mal ungefähr zwei, drei Monate nach seiner Beerdigung.»
    «Wie oft?»
    «Das Schnippeln? Als du mich erwischt hast, war’s das erste Mal seit ungefähr neun Wochen. Aber die Bulimie fing vorher an, und es passiert häufiger. Meine Freßorgien und das anschließende Übergeben widern mich derart an, daß ich mit der Schnippelei angefangen habe. An diesem Abend hatte ich mir den Brie gekauft, oh, und noch eine Menge anderes Zeug, das du nicht gefunden hast, Schokolade und Supermarktkuchen. Gegessen hatte ich eigentlich noch nichts davon. Ich habe standgehalten, und irgendwie muß ich wohl gedacht haben, wenn ich mich selbst verletze, würde ich nicht anfangen, alles in mich reinzustopfen. Ich war auch bei einer Therapeutin. Sie meint, wir bekommen es in den Griff.» Sie griff in die Tüte, um sich eine weitere Hand Erdnüsse herauszunehmen, die sie sich dann in drei Ladungen in den Mund stopfte. Sie kaute einen Moment. «Aber eigentlich war ich schon immer ein guter Esser», sagte sie.
    Sam stieß eine Art Lachen aus. «Glaubst du auch, es in den Griff zu bekommen?»
    Sie nickte energisch. «Ja, tue ich. Ich will, daß es aufhört, Sam. Ich fühle mich beschissen dabei, daß ich mir so was antue. Ich sitze zu Hause, vielleicht vor der Glotze, hab eigentlich überhaupt keine Probleme, denke auch an nichts besonderes, und dann fange ich an, an den kleinen Haaren auf meinen Unterarmen zu ziehen, reiße sie aus. Und von da an geht’s dann einfach weiter. Noch während ich es tue, weiß ich: es ist verrückt. Ich hasse mich selbst.»
    «Aber du kannst einfach nicht damit aufhören? Kannst du dir denn nicht sagen, heh, wenn du das machst, fühlst du dich beschissen, und deshalb werde ich es nicht mehr tun?»
    «Sicher, das kann ich mir sagen», sagte sie. «Und ich sag’s mir ja auch. Aber dann mach ich’s urplötzlich doch wieder, und ich weiß nicht, warum.»
    Das verstand Sam. Er verstand es nicht als Mann, als vernunftbegabter Mensch, als verantwortungsvolles Mitglied der Gesellschaft. Er verstand es als Alkoholiker. Das sagte er ihr auch. «Das kann ich verstehen. Ich kann gefühlsmäßig nachvollziehen, was du durchmachst.»
    Sie warf ihm einen Blick zu. «Dachte ich mir. Ich habe manchmal schon daran gedacht, dich anzusprechen. Es mir von der Seele zu reden. Hab’s mir in Gedanken ausgemalt. Aber wenn’s drauf ankam, habe ich’s einfach nicht fertiggebracht. Es mußte ein Geheimnis bleiben.»
    «Auf welche Art hilft dir die Therapeutin?» fragte Sam. «Ist es okay, wenn ich dir diese Fragen stelle? Wenn ich zu weit gehe, dann sag’s einfach.»
    «Wir haben an Kindesmißbrauch gearbeitet», sagte sie. «An meiner Beziehung zu meinen Eltern, als ich noch ein kleines Mädchen war. Mein Vater hat sich an mir vergangen, und meine Mutter hat mich nicht vor ihm beschützt.»
    Sam atmete tief aus. Das von ihr benutzte Verb störte ihn: «vergehen». Das war eines dieser diplomatischen Hüllworte, die einen vor dem echten Schrecken der eigentlichen Bedeutung schützen sollen. Er wußte nicht, ob sie damit mehr ihn oder sich selbst schützen wollte. Wahrscheinlich beides. Es folgte ein längeres Schweigen, und Sam hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. «Es tut mir leid, Marie», brachte er schließlich heraus.
    Ein trockenes Lächeln spielte um ihren Mund. «Ich will kein

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