Tiefschlag
- und man denkt: Das ist aber komisch, ich dachte immer, hier lassen sich alle nur vollaufen.
Er ging am Ehrenmal vorbei und die kurze Anhöhe hinauf zur Castle Mills Bridge. Die Schleuse am Brownie Dyke lag ruhig und still im Mondlicht. Sam lehnte sich auf das blaue Eisengeländer und starrte in das trübe Wasser, in den See aus Tränen unter seinen Füßen. Die Gegend, in der tagsüber reger Verkehr herrschte, war jetzt still bis auf das träge Tröpfeln aus den Schleusentoren. Links von den Toren hatte sich alter Plunder angesammelt, abgestorbene Blätter und Äste vermischt mit Chipstüten und achtlos fortgeworfenen Schokoladenpapierchen. Das Licht der Straßenlaternen fiel auf zwei rote Rettungsringe, die an einer Wand hingen, an jedem eine blaue Rettungsleine aus Nylon. Beide hatten das junge Leben von Andrew Bridge nicht retten können.
«... Als sie meinen Jungen aus dem Fluß gefischt haben, hatte er keinen Penis mehr.» Sam schüttelte den Kopf, als er sich an die Worte von Mrs. Bridge erinnerte. Wer würde einem Kind so was antun? Wer war verrückt genug, krank genug, um so etwas zu tun? Sam konnte es sich nicht vorstellen. Wenigstens war der Junge schon tot, als man ihn kastrierte. Und er hatte eine Erscheinung, dort am Brownie Dyke, sah sogar auf die Uhr — vier Uhr sechsundfünfzig —, damit er später wüßte, wann es geschehen war. Er würde den Kerl finden, der das getan hatte, würde ihm von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten. Es lag noch in der Zukunft, aber es stand dort geschrieben. Sam brauchte nichts weiter tun, als darauf zuzustolpern. Vier Uhr sechsundfünfzig morgens, Brownie Dyke, eine Vorahnung des Unvermeidlichen.
Vor langer Zeit war Sam selbst Vater gewesen. Der Vater eines kleinen Mädchens namens Bronte, die als Opfer eines unfallflüchtigen Fahrers ihr Leben verloren hatte. Das war jetzt schon so viele Jahre her, daß Sam sich nicht mal mehr erinnern konnte, wie viele genau. Er konnte sich jedoch an ihre Augen erinnern, und an ihr Lächeln und wie ihr Haar im schwachen Licht schimmerte, wenn er sie ins Bett brachte. Er konnte sich an ihre Stimme erinnern, und an das Gefühl ihrer Haut und an ihre schnellen, stets hektischen Bewegungen. Und er konnte sich an ihre Mutter erinnern, an Donna, aus dem Leben gerissen vom gleichen Auto.
Sie waren einkaufen gewesen.
Vor vierundzwanzig Jahren. Vierundzwanzig Jahre, fünf Monate, drei Wochen, zwei Tage und... er zählte es an den Fingern ab... elf Stunden. So ungefähr. Wenn das es ungeschehen machte, würde Sam warten, bis die Hölle zu Eis gefror. Aber nichts würde sie ihm zurückbringen.
Er starrte auf das bewegungslose Wasser. Schwarz wie Hitlers Herz. Unmengen Wasser, allein in dieser einen Schleuse. Und doch nicht genug, um darin zu ertrinken. Soviel hatte Sam Turner getrunken, vielleicht doppelt soviel, direkt aus der Whiskeyflasche. Und er lebte immer noch.
Er legte sich noch eine Stunde ins Bett und frühstückte dann in aller Ruhe. Er ließ sich fast eine Stunde Zeit für das Rasieren und Haarewaschen. Es brachte nichts, wenn er ins Büro kam und aussah, als hätte er einen draufgemacht.
Geordie und Marie waren bereits früh reingekommen und waren wieder gegangen, um ihre Ermittlungen fortzusetzen. Beide hatten eine Akte auf seinen Schreibtisch gelegt, Abschriften von Gesprächen mit Anwohnern und Händlern in Micklegate und der Gegend um den Brownie Dyke.
Celia fixierte ihn scharf und sagte: «Konnten Sie nicht schlafen?»
Sam lachte. «Wenn Sie wüßten, wie lange ich heute morgen für mein Make-up gebraucht habe», sagte er. «Und Sie durchschauen die Fassade sofort.»
«Ich arbeite für einen Detektiv», erwiderte Celia. «Und ich kümmere mich in diesem Büro um den Empfang, begegne an jedem einzelnen Tag der Woche allen möglichen Leuten. Das schärft die Wahrnehmung.» Sie drückte ihm eine Tasse Kaffee in die Hand. «Da liegen die Berichte von Geordie und Marie», sagte sie. «Und dann ist da auch noch die Post. Ich bringe Sie Ihnen sofort rüber.»
Sam griff über den Schreibtisch nach Geordies Akte. Dann schaute er wieder zu Celia auf, die sich nicht von der Stelle gerührt hatte. «Was ist?» fragte er.
«Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet. Konnten Sie nicht schlafen?»
«Ein schlechter Traum, Celia. Ich hab versucht, ihn zu ignorieren, aber er ist immer wieder zurückgekommen.»
Celia schüttelte den Kopf. «Diese arme Frau», sagte sie. «Ich meine Mrs. Bridge. Sie wird den Rest ihres
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