Tiefschlag
Lebens mit dem Wissen leben müssen, daß jemand ihrem Jungen so etwas angetan hat. Ein Kind zu verlieren ist schon schlimm genug, Sam. Aber wenn es obendrein noch von jemandem so verstümmelt wurde...» Sie ging zu ihrem Büro. Sam starrte auf ihren Rücken und registrierte plötzlich, daß Celia nicht mehr jung war. «Ich konnte auch nicht schlafen», sagte sie. «Ich glaube, ich werde nicht mehr schlafen können, bis wir den Mann gefunden haben, der das getan hat.»
Den restlichen Morgen verbrachte er damit, die Berichte von Geordie und Marie durchzuarbeiten. Keiner enthielt überraschende Enthüllungen, aber beide waren draußen unterwegs und erledigten die mit viel Lauferei verbundene Kleinarbeit. Er lud Celia zum Mittagessen ins Betty’s ein, und sie aßen Lasagne mit einer höllisch guten Soße.
Wieder im Büro zog Sam gerade seine Jacke an, um hinüber in das Viertel seiner Schottischen Witwe zu gehen, als das Telefon klingelte. Normalerweise nahm Celia alle Anrufe entgegen, doch sie war an Geordies Schreibtisch, als es klingelte, also nahm Sam den Hörer ab. Das Hintergrundrauschen verriet, daß jemand von einem Handy aus anrief.
Er konnte nicht ausmachen, was die erste Stimme sagte. «Agh, Gog...» Irgend so was, dann sagte eine andere Stimme, eine Stimme weiter von der Sprechmuschel entfernt: « Gib her!»
Es schepperte und krachte, als hätten sie das Telefon hinfallen lassen. Sam sagte wieder «Hallo?»
«Spreche ich mit Sam Turner?» fragte die zweite Stimme, jetzt näher an der Sprechmuschel und das Telefon offensichtlich fest in der Hand.
«Ja», bestätigte Sam, daß er er war.
«Wir wollen das Band.»
Offensichtlich hatte der Kerl, wer immer es war, ein Mädchenpensionat besucht, soviel war seinen geschliffenen Manieren am Telefon zu entnehmen, allerdings besaß er immer noch etwas leicht Ungehobeltes. Vielleicht war er erst kürzlich von der Schule abgegangen? «Tut mir leid», sagte Sam. «Sie werden sich wohl schon etwas deutlicher ausdrücken müssen.»
«Das Scheißband», sagte die Stimme. «Wir wollen es haben.»
Sam schüttelte den Kopf. «Entweder sagen Sie jetzt sofort das Zauberwort, oder ich lege auf.»
Aber die Stimme, der Kerl hinter der Stimme, dachte ja gar nicht daran, sich beirren zu lassen. Nach kurzem Schweigen sagte er: «Wir wollen das Band.»
«Tesaband?» fragte Sam. «Ein Maßband vielleicht? Sind Sie sicher, die richtige Nummer gewählt zu haben?»
Wieder folgte ein kurzes Schweigen. Vielleicht war dies die Zeit, die der Bursche am anderen Ende brauchte, um Sams Worte zu interpretieren. Dann kam er wieder in Fahrt. «Hör zu, du Wichser, wir wissen, daß du’s hast. Also, du kannst jetzt entweder freiwillig mitspielen, oder wir kommen und nehmen’s dir einfach ab.»
«Ich senke den Blick auf meine Knie», sagte Sam in die Sprechmuschel, «und ich sehe sie zittern.»
«Deine Scheißknie haben bald keine Scheibe mehr, wenn wir das Band nicht kriegen.»
Dann war die Leitung tot.
Sam zog die Jacke wieder aus und setzte sich an seinen Schreibtisch.
«Um was ging es?» fragte Celia.
«Das werden wir vielleicht schon sehr bald herausfinden», sagte Sam. «Zwei Typen haben gerade einen Termin ausgemacht.»
Aber sie hielten ihn nicht ein. Sam wartete bis nach fünf im Büro, aber kein Mensch kam. Das Telefon klingelte alle fünf Minuten, zum größten Teil Anfragen, um die sich Celia selbst kümmerte. Ein- oder zweimal war es jemand, der mit Sam persönlich sprechen mußte. Aber der Kerl, der das Band haben wollte, rief nicht wieder an.
Sam verließ das Büro, kehrte dann zurück und öffnete den Safe unter seinem Schreibtisch. Er nahm seine 9mm Glock heraus und verstaute sie in einem Holster unter seinem Arm. Er schloß die unterste Schublade des Aktenschrankes auf, nahm ein Magazin mit achtzehn Schuß heraus und steckte es in die Jackentasche.
Mehrere Sekunden blieb er vor der Bürotür stehen und überlegte hin und her, ob er die Kanone nicht doch wieder zurücklegen sollte. Auf der Straße trug er sie praktisch nie. Aber dieses Mal kam es ihm richtig vor. Mußte wohl irgendwas mit diesem Anruf zu tun haben. Es lag weniger daran, was der Bursche tatsächlich gesagt hatte, sondern vielmehr daran, was er nicht gesagt hatte. Sam jedenfalls hörte heute auf seine Intuition. Es war der richtige Augenblick, eine Waffe zu tragen. Er hoffte, er würde sie nicht benutzen müssen. Aber wenn er sie benutzen mußte, wäre es immer noch schneller und sauberer als
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