Tiefschlag
die Furcht, daß er sie antraf, wie sie wieder an sich herumschnippelte, oder daß sie sich womöglich bereits so malträtiert hatte, daß sie nicht wiederzuerkennen war. An diesem Abend, an dem er Zeuge geworden war, wie sie sich mit dem Apfelausstecher verstümmelte, war sie alles andere als behutsam ans Werk gegangen. Das scharfe Ende von dem Ding war tief in ihr Fleisch eingedrungen, und sie drückte und drehte es mit aller Kraft. Als er noch an der Flasche hing, hatte Sam zahllose Schlägereien in Kneipen und auf der Straße erlebt, und der Angriff, den Marie gegen sich selbst geführt hatte, war nicht weniger aggressiv als eine dieser Schlägereien.
Sie erwartete ihn. Sie führte ihn ins Wohnzimmer, wo sie ihn vor eine Salatschüssel mit Kartoffelchips und mehrere in dünne Scheiben geschnittene Mars-Riegel setzte.
«Essen wir was?» fragte Sam lächelnd.
«So was nenne ich nicht essen», sagte Marie.
Sie sahen sich an, und wortlos nahmen beide Platz. «Meine Therapeutin heißt Anna», sagte sie. «Ich habe ihr erzählt, was passiert ist, daß du mich dabei erwischt hast, wie ich an mir rumgeschnitten habe. Sie glaubt, daß du mir helfen kannst, wenn du willst.»
«Jederzeit, Marie. Du mußt es nur sagen.»
«Wir haben schon eine ganze Weile darüber gesprochen, noch jemanden zu beteiligen. Das Problem war jedoch immer, wer dieser jemand sein könnte.»
«Was genau meinst du damit, wenn du sagst?» fragte Sam.
«Sei einfach da», sagte Marie. «Hör zu, sprich gelegentlich mit mir darüber. Im Moment habe ich alles verinnerlicht. Wir versuchen, es rauskommen zu lassen. Dann kann man vielleicht damit umgehen, vernünftig damit arbeiten.»
«Wirst du mir auch verraten, was du damit meinst?» fragte er. «Ich meine, ich will dir gern helfen, aber du müßtest mir schon etwas Konkretes an die Hand geben.»
«Sam», sagte Marie, «als ich sieben Jahre alt war, hat mich mein Vater mit süßen Worten zu einer sexuellen Beziehung mit ihm überredet. Das ist dann acht Jahre so weitergegangen. Es war ein Geheimnis zwischen ihm und mir. Nach außen waren wir eine völlig normale Familie. Meine Mutter hat sich immer zurückgehalten. Ich weiß nicht, ob sie wußte, was wirklich los war. Ich denke, sie wird wohl irgendwie vermutet haben, was passierte.»
Sam rutschte nervös herum und fragte sich, ob er etwas sagen sollte. Aber Marie beachtete ihn nicht weiter und erzählte ihre Geschichte. «Wir waren eine aus drei Personen bestehende Verschwörung gegen den Rest der Welt», sagte sie. «Wenn die Welt auch nur eine Ahnung davon gehabt hätte, was wir machten, hätte man uns niemals erlaubt, als Familie weiterzubestehen.
Also haben wir das Geheimnis für uns behalten, haben dichtgehalten.
Ich habe meinen Vater geliebt. Sogar den Sex. Natürlich nicht alles. Seine Größe mochte ich nicht, auch nicht die Brutalität, wenn er mich zwang, Dinge zu tun, die ich eigentlich nicht tun wollte. Dinge, die mir weh taten. Aber die sanfteren Sachen mochte ich, ganz am Anfang, als es nur Berührungen und Kuscheln und das behagliche, warme Beisammensein war. Schockiert dich das?»
Sam schüttelte den Kopf.
«Ich wollte nicht, daß er die brutalen Sachen mit mir machte», sagte sie. «Aber ich wollte ihn auch nicht zurückweisen. Er sagte, es sei schon in Ordnung. Ich habe ihm keinen Vorwurf gemacht, und ich habe ihr ebenfalls keinen Vorwurf gemacht. Mir allein habe ich Vorwürfe gemacht.»
Sam beugte sich wieder vor. «Aber jetzt machst du das doch nicht mehr, oder?» sagte er. «Jetzt, wo du älter bist. Heute erkennst du doch bestimmt, daß es nicht deine Schuld war?»
«Genau das versuche ich dir ja zu erklären», sagte sie. «Vater und Mutter und das Kind, das ich einmal war, sie alle sind heute Teil von mir. Vater ist der Aggressor, derjenige, der mich verletzt hat. Er ist es, der mich schneidet oder mich zwingt, all das Essen in mich hineinzustopfen, genau wie er mich früher gezwungen hat, mir seinen Schwanz in den Rachen zu stopfen.» Sie stand auf und ging zur Tür. Sie kehrte zurück und stellte sich hinter den Sessel, umklammerte mit beiden Händen die Rückenlehne. «Verstehst du das, Sam?»
«Ja», sagte Sam. «Ich denke schon.»
«Mutter ist ein anderer Teil von mir», fuhr Marie fort. «Sie ist der Teil, der nicht verhindern kann, daß mir weh getan wird. Sie sollte mich daran hindern, daß ich mich schneide oder all das Zeug in mich reinstopfe, aber sie kann es nicht. Sie sieht, daß es
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