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Tiefschlag

Tiefschlag

Titel: Tiefschlag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Baker
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die langsame, institutionalisierte Gewalt des Staates. Desselben Staates, der die Resozialisierung von Straftätern dem privaten Sektor übergeben hatte, so daß die fürsorgliche und strafrechtliche Bearbeitung von Menschen zum Objekt wirtschaftlichen Gewinnstrebens wurde.
    Nach der Arbeit ging Sam zu einem AA-Treffen. Es schneite. Schneeregen. Gefrierendes nasses Zeug, das ein Gott durch den Kosmos herabstreute, der vergessen hatte, wie es war, ein Mensch zu sein.
    Zwei Frauen sprachen vor Sam. Als er an der Reihe war, sagte er: «Ich heiße Sam, und ich bin Alkoholiker. Ich bin seit elf Monaten trocken. Ich habe heute nichts getrunken, und ich will heute auch nichts trinken. Als ich noch regelmäßig getrunken habe, da habe ich mich manchmal vor mir selbst geekelt, oder ich bekam Angst. Und dann sagte ich mir: (Zum Teufel damit, ich werde Abstinenzler.) Funktioniert hat’s nie. Ich sagte mir, ich werde nie wieder einen Tropfen anrühren oder ich werde einen Monat lang nichts mehr trinken, oder eine Woche. Ich konnte mir versprechen, was ich wollte, es hat mich doch nur unter noch mehr Druck gesetzt, und die einzige Möglichkeit, wie ich diesen Druck von mir nehmen konnte, der einzige Weg, den ich kannte, um diesen Druck von mir zu nehmen, bestand darin, mir ein Gläschen zu gönnen.
    Das mache ich jetzt nicht mehr. Heute trinke ich nichts. Ich werde alles tun, um heute nichts trinken zu müssen. Zum Teufel mit morgen, ein Morgen gibt’s vielleicht nicht mehr. Aber heute bin ich hier, und heute werde ich nichts trinken. Und genau das ist der Vertrag, zwischen mir und dem Drink. Nur wir beide. Und heute werde ich den Drink nicht anrühren. Ich lasse ihn auf dem Regal stehen. Ich verspreche meinen Freunden nichts, auch nicht den Leuten, mit denen ich zusammenarbeite, und ich verspreche auch niemandem hier in diesem Raum etwas. Ich führe hier so was wie ein Selbstgespräch. Ich mache das ganz allein mit mir aus. Heute gibt’s für mich keinen Drink.
    Wie ich vor elf Monaten damit angefangen habe, da habe ich mir nicht gesagt: Ich glaube, das hätte ich damals nicht geschafft. Nein, ich habe nur für eine einzige Stunde mit dem Trinken aufgehört. Ich habe mir gesagt, so lange hältst du bestimmt durch. Eine Stunde. Und ich hab’s geschafft. Es war ganz einfach. So einfach, daß ich mir dann gesagt habe, das kannst du auch noch eine Stunde.
    Das habe ich an diesem Tag dann vierundzwanzig Mal so gemacht. Habe kein Auge zugetan. Ich habe nur dafür gesorgt, daß ich vierundzwanzig Stunden kein Glas anrührte.
    Ich kann nur über heute reden. Über morgen kann ich euch absolut nichts sagen, auch nicht über nächste Woche oder nächsten Monat. Ich kann nicht behaupten, ich bin jetzt für immer und ewig nüchtern. Ich kann nur sagen, daß ich jetzt nüchtern bin, und es ist ein gutes Gefühl. Ich genieße es.»
    Es war Brauch, daß die anderen sich bedankten, wenn jemand zu sprechen aufhörte, und die Leute in Sams Nähe taten es. Ein paar Augenblicke sagte niemand ein Wort, und dann sprach ein Neuer die traditionellen einleitenden Worte: «Ich heiße Leonard, und ich bin Alkoholiker.» Er war schrecklich dünn, hatte einen feinen Bart und war zu den letzten drei Treffen gekommen, ohne den Mund aufzumachen. Jetzt erzählte er den anderen seine Lebensgeschichte, bot sie der Gruppe wie ein Geschenk an. Sam schloß die Augen. Leonards Leben war völlig anders verlaufen als sein eigenes. Leonard hatte als Kind aus einer typischen Mittelschichtsfamilie verschiedene Privatschulen besucht. Es war eine lange, langsame und schmerzhafte Reise von der Stelle eines Junglehrers an der Winchester zu einem AA-Treffen im Haus der Freunde in York. Es war eine Geschichte der Privilegien und der Unfähigkeit, damit leben zu können. Eine Geschichte des Versagens und eines Abstiegs in den Alkoholismus. Eine Geschichte wie Sams eigene und wie die jedes anderen in diesem Raum.
    Eine Geschichte, die noch nicht zu Ende war. Denn die letzte Seite war noch nicht geschrieben.
    Nach dem Treffen ging Sam zu Leonard und bedankte sich bei ihm. «Falls Sie mal mit jemandem reden müssen», sagte er. «Oder sonst irgendwas brauchen... Rufen Sie mich an.»
    «Danke», sagte Leonard mit seiner kultivierten Stimme. «Durchaus möglich, daß ich das mache.»
     
    Es schneite nicht mehr, aber der Wind war scharf wie Rasierklingen, als Sam durch den Park zu Maries Haus ging. Jetzt war da immer

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