Tiefschlag
passiert, und sie ist wie gelähmt. Und der Rest von mir ist das kleine Mädchen, das mittendrin stand. Das Opfer.
Heute verstehe ich das. In meinen besseren, klareren Augenblicken kann ich mich zurücklehnen und sehe haargenau, was passiert. Aber es gibt Augenblicke, in denen ich überhaupt nichts mitkriege. Dann gehe ich los und kaufe zum Beispiel den Brie, oder ich schnappe mir eben ein Messer.»
«Und ist das der Punkt, an dem ich ins Spiel komme?»
«Ich kriege es in den Griff, Sam. Aber es gibt Momente, da bin ich wie benommen, und dann gibt es Zeiten, da schäme ich mich schrecklich oder werde von Schuldgefühlen zerfressen. In solchen Augenblicken wird es gut sein zu wissen, daß du da bist. Jemand, der Bescheid weiß, aber kein Urteil fällt.»
Er stand ebenfalls auf, ging zu ihr und nahm sie in die Arme. Es hatte etwas von dem Gefühl der Nähe, die sie bei ihrem Vater gespürt hatte. Und es schien, als hätte er gerade einen neuen Job angenommen. Einen, den er nicht ablehnen konnte. Sam drückte Marie an sich und hoffte im stillen, daß er der Sache gewachsen war. Der Job, den er für Mrs. Bridge erledigte, nämlich den Mörder ihres Sohnes aufzuspüren, und der Job, den er für Jeanie Scott erledigte, den Mörder ihres Mannes zu finden — beides schien simpel und einfach verglichen mit der Aufgabe, die Marie ihm gerade in den Schoß gelegt hatte. Auf dem Nachhauseweg um zwei Uhr morgens machte Sam einen kleinen Umweg über den St. Helen’s Square. Er schaute zu dem Bürofenster hinauf, das in völliger Dunkelheit dalag. Als er die Ecke von Betty’s erreichte, drehte er sich um und kehrte zu den Stufen vor der Haustür zurück, durch die man zu seinem Büro gelangte. Die Tür stand offen, nur einen Spalt, aber sie stand definitiv offen.
Deshalb hatte er den Umweg gemacht. Deshalb war er von Betty’s noch einmal zurückgekehrt. Eine Art sechster Sinn mußte ihn dazu gebracht haben. Eigentlich glaubte Sam nicht an so etwas wie einen sechsten Sinn. Aber er hatte keine Zeit, groß darüber nachzudenken. Er drückte die Haustür auf und stieg die Treppe hinauf. Es war pechschwarze Nacht, aber er kannte die Treppe und den Flur darüber genau.
Als er das Kopfende der Treppe erreichte, atmete er auf. Falls jemand in dem Gebäude gewesen war, schien er jetzt nicht mehr dort zu sein. Er ging den Flur hinunter und tastete in seiner Jackentasche nach dem Büroschlüssel. Er nahm ihn heraus, brauchte ihn jedoch nicht, denn die Tür zu SAM TURNER - ERMITTLUNGEN war aus den Scharnieren gehoben worden.
Er knipste das Licht an und starrte auf das Chaos.
Jemand hatte, wie versprochen, ein Band gesucht. Alles war mitten im Büro auf einen großen Haufen geworfen worden. Celias Computer, Sams Tapedeck, sogar der Aktenschrank war auf den Kopf gestellt worden. Schreibtischschubladen und kurz und klein geschlagene Stühle waren auf den Haufen geschmissen und Akten und Papiere und Bücher zerrissen worden. Sogar die Schreibtische hatte man umgedreht oder auf die Seite gelegt. Bei einem waren alle Beine abgeschlagen, und das Telefon war nur noch eine Ansammlung von Einzelteilen.
Sam hob ein Blatt Papier auf, und damit Celia keinen Herzinfarkt bekam, wenn sie am nächsten Morgen zur Arbeit erschien, kritzelte er ihr mit einem Kugelschreiber eine Nachricht, teilte ihr mit, in das Büro sei eingebrochen worden.
Dann setzte er so gut es ging die Bürotür wieder ein, schloß die Haustür ab und machte sich auf den Weg zu Celias Haus, wo er den Zettel in den Briefkasten warf.
Anschließend ging er nach Hause und ins Bett. Rechnete nicht damit, einschlafen zu können. Aber wie’s so ist: Er schloß die Augen und schlummerte wie ein Baby, bis er hörte, wie Geordie den Wasserkessel füllte.
KAPITEL VIERZEHN
S am hatte Geordie darauf vorbereitet, was ihn im Büro erwartete, aber er war dennoch überrascht, als er dort eintraf und alles kurz und klein geschlagen vorfand. Barney rannte zu der Stelle im Büro, wo normalerweise sein Korb stand. Doch wer immer dort gewesen war, er besaß keinerlei Respekt vor dem Eigentum anderer. Barneys Korb lag mit all dem anderen Zeug auf dem Haufen. Aber wenn Barney eines nicht war — und Barney war eine ganze Menge -, dann ganz bestimmt kein Materialist. Er gehörte zu den am wenigsten materialistisch eingestellten Leuten — Hunden —, denen Geordie je begegnet war. Genaugenommen hatte Geordie so viele Hunde noch gar nicht kennengelernt, nur vielleicht zwei oder drei, an zwei
Weitere Kostenlose Bücher