Tiefschlag
mußte.
Dieses Wort Scham. Da war es wieder.
Sam sah Frank Squires alias Franco Tampon manchmal in der Stadt. Wenn man in einem Ort wie York lebt, dann begegnet man früher oder später den Leuten, die man kennt, auf der Straße, sofern man sein Haus verläßt. Frank hatte sich seit seiner Zeit in Manchester kaum verändert. Zwei-, dreimal hatte Sam ihn vor der Minster School gesehen, wo er auf den Spielplatz hineinschaute, während die Kinder in ihren roten Shorts und weißen T-Shirts Ball spielten.
Aber da war noch etwas. Frank hatte einen Bruder. Sam konnte sich nicht an seinen richtigen Namen erinnern, er selbst nannte sich jedenfalls Doc Squires. Kein Doktor der Medizin, sondern irgendein anderer Akademiker. War er Historiker? Vor ein paar Monaten, vielleicht war’s auch schon vor einem Jahr, hatte in der Lokalzeitung ein Artikel gestanden, daß Doc Squires wegen Ladendiebstahls angezeigt worden war. Er war freigesprochen worden, behauptete, er habe nur vergessen zu bezahlen, und der Friedensrichter hatte das akzeptiert. Der Ladenbesitzer aber war außer sich gewesen und sagte, der Kerl komme immer in sein Geschäft und nehme irgendwelche Sachen mit, ohne zu bezahlen. Dies wäre das erste Mal gewesen, daß er ihn auf frischer Tat erwischt habe, doch er wisse schon seit Wochen, daß der Kerl ihn permanent bestahl.
Vielleicht lohnte es sich, mal mit diesem Ladenbesitzer zu reden. Geordie sollte den Artikel bei der Zeitung besorgen.
Sam meinte, die meisten Steinchen des Puzzles nun zu besitzen, jetzt ginge es nur noch darum, sie richtig zusammenzusetzen. Der Mord an dem Jungen, Andrew Bridge, und die Morde an den beiden Männern, die bei der Videoüberwachung arbeiteten, hingen irgendwie zusammen. Der Zusammenhang wurde durch ein Band hergestellt, wahrscheinlich ein Videoband, das verschwunden war, und durch zwei ernstlich gestörte Hardcore-Bodybuilder. Dann war da die Vermutung, daß Andrew Bridge mit Drogen gedealt hatte, mit Anabolika. Es gab ein ausgefallenes Nummernschild und einen schnittigen Sportwagen. Und im Hintergrund, allerdings nicht nur im Hintergrund, sondern genau in der Mitte von allem, wenn Sams Instinkte noch funktionierten, stand Franco Tampon.
Aber es nahm noch keine richtige Gestalt an. Er hatte es fast, aber etwas fehlte noch. Und um das fehlende Puzzlestein-chen zu finden, würde er ein bißchen herumgraben müssen, und das wiederum bedeutete, sich womöglich dem Zorn der bösen Buben auszusetzen. Es bedeutete, Celia und Marie und Geordie in Gefahr zu bringen. Sam mußte gründlich darüber nachdenken. Es wäre unverantwortlich, nicht darüber nachzudenken.
Die beiden Fälle waren zwei Seiten derselben Medaille. Wenn er einen aufklärte, würde er auch den anderen lösen. Mit allem, was er jetzt machte, würde er Franco und seine Partner provozieren. Sam würde weitermachen und tun, was er tun mußte. Wie hoch auch immer letztendlich der Preis war, er würde sich nicht davon abhalten können. Er spürte, wie sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. «Professionelle Distanz», sagte er laut. «Das ist mein zweiter Vorname.»
Er würde alles in seiner Macht Stehende unternehmen, um Geordie und die anderen zu schützen, aber am Ende würde er der Spur folgen, wohin auch immer sie führte. Er war ein Alkoholiker, und er war trocken. Trocken wie die Hölle. Wenn er jetzt aufgab, seine Schottische Witwe und Mrs. Bridge im Stich ließ, wenn er sich bei dieser Sache selbst im Stich ließ, dann würde er den Rest seines Lebens mit der Flasche verbringen.
KAPITEL EINUNDZWANZIG
T ones richtiger Name war Anthony Read, aber darauf würde er nicht reagieren. Er würde ja kaum auf Tony ansprin-gen.
Geordie hatte Marie als Privatdetektivin vorgestellt und Tone gesagt, sie sei okay. Dann hatte er sie allein gelassen.
«Ist das echt wahr?» fragte Tone.
«Ja.» Marie lächelte weiter und hoffte, nicht zu uncool zu wirken.
«Sie sind Privatschnüfller?»
Sie nickte.
«Ein weiblicher Schnüffler?»
«Jap.»
Sie saßen am Fenster des Pizza Express. Vor Tone stand eine riesige Pfannenpizza mit doppelten Portionen von allem, was an Extras auf der Karte stand, und ein Liter Coke. Vor Marie stand ein schwarzer Kaffee ohne Zucker.
«Ich hab noch nie eine kennengelernt», sagte er.
«Eine Frau oder einen Privatschnüffler?» erkundigte sich Marie, aber in seiner Gesellschaft war der Witz schon tot, bevor er überhaupt das Licht der Welt erblickte. Tone warf ihr einen Blick
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